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BGH Urteil vom 05.04.2005 - VI ZR 216/03

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Leitsatz (amtlich)

Steht fest, dass der Arzt dem Patienten durch rechtswidriges und fehlerhaftes ärztliches Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch bei einem rechtmäßigen und fehlerfreien ärztlichen Handeln erlitten hätte. Die Behandlungsseite muss, sofern ein schadensursächlicher Eingriff ohne ausreichende vorherige Aufklärung des Patienten erfolgt ist, auch beweisen, dass es zu dem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung des Patienten gekommen wäre.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 1; ZPO § 286

 

Verfahrensgang

OLG Naumburg (Urteil vom 10.06.2003; Aktenzeichen 1 U 4/02)

LG Halle (Saale)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des OLG Naumburg v. 10.6.2003 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Bei der Klägerin wurde im Jahre 1997 eine beiderseitige Vergrößerung der Schilddrüse mit einem Knoten im Isthmus-Bereich sowie zwei Knoten im rechten Bereich der Schilddrüse (sog. Knotenstruma III. Grades) festgestellt. Sie wurde zur operativen Behandlung in dem Kreiskrankenhaus, dessen Träger der Beklagte ist, aufgenommen. Am Tag vor der Operation wurde sie über den Verlauf einer teilweisen Entfernung der Schilddrüse sowie die daraus resultierenden Risiken aufgeklärt. Am Morgen des 29.5.1997 wurde die Schilddrüse der Klägerin operativ unter Darstellung der Stimmbandnerven vollständig entfernt. In der Folge ergaben sich Komplikationen, die zu einer beidseitigen Stimmbandlähmung bei der Klägerin führten. Infolge dieser hat die Klägerin bereits im Ruhezustand Atembeschwerden, die sich bei körperlichen Aktivitäten verstärken. Sie kann nur noch flüsternd sprechen.

Die Klägerin macht geltend, die Schilddrüsenoperation sei wegen unzureichender Aufklärung rechtswidrig erfolgt und zudem fehlerhaft durchgeführt worden. Sie begehrt deshalb von dem Beklagten Schmerzensgeld, Ersatz ihres materiellen Schadens und Feststellung der weiteren Ersatzpflicht des Beklagten.

Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben. Das Berufungsgericht hat sie unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin auf die Berufung des Beklagten in vollem Umfang abgewiesen. Dagegen richtet sich die vom erkennenden Senat zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie die im Berufungsverfahren gestellten Anträge weiter verfolgt.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht führt aus, ein Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten sei schon dem Grunde nach nicht gegeben; er scheitere jedenfalls daran, dass die Klägerin den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem pflichtwidrigen Verhalten der sie behandelnden Ärzte im Krankenhaus des Beklagten und der bei ihr eingetretenen beidseitigen Stimmbandlähmung nicht führen könne.

Allerdings hätten die behandelnden Ärzte die Klägerin inhaltlich nicht ausreichend über den beabsichtigten operativen Eingriff und dessen Risiken aufgeklärt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass der der Klägerin im Rahmen der Eingriffs- und Risikoaufklärung gegebene pauschale Hinweis auf eine Operationserweiterung während der Operation hier nicht genügt habe. Präoperativ sei die Durchführung einer Teilresektion der Schilddrüse indiziert und an der Wahl dieser indizierten Behandlungsmaßnahme sei die Aufklärung zunächst auszurichten gewesen; insoweit sei die Aufklärung, was durch die von dem Beklagten vorgelegten Krankenunterlagen bewiesen sei, auch inhaltlich ausreichend erfolgt. Im vorliegenden Fall sei aber eine intraoperative Operationserweiterung hin zu einer Totalresektion des Schilddrüsengewebes auch aus präoperativer Sicht der behandelnden Ärzte ernsthaft in Betracht gekommen, weshalb die Klägerin in eine solche konkrete Option auch habe eingeweiht werden müssen. Zwar sei das Behandlungsrisiko, insb. dasjenige von Nachblutungen bzw. der Verletzung eines oder beider Stimmbandnerven, sowohl bei einer Teil- als auch bei einer Totalresektion des Schilddrüsengewebes jeweils als gering einzuschätzen. Doch seien die Risiken einer Totalresektion signifikant höher als bei einer Teilresektion. Eine dahin gehende Aufklärung der Klägerin hätten die behandelnden Ärzte schon nach dem Sachvorbringen des Beklagten nicht vorgenommen.

Ob die die Klägerin behandelnden Ärzte die Indikation für eine Totalresektion des Schilddrüsengewebes während der Operation verfrüht, d.h. auf unzureichender Entscheidungsgrundlage, getroffen hätten oder nicht, könne offen bleiben. Unter Zugrundelegung der Zeugenaussagen der beiden behandelnden Ärzte sei die Entscheidung zur totalen Ausräumung des Schilddrüsengewebes aus fachärztlicher Sicht geboten gewesen. Unter Zugrundelegung des Operationsberichts hingegen hätten die behandelnden Ärzte die Indikation für eine Totalresektion zumindest verfrüht gestellt. Selbst wenn man davon ausgehe, sei aber ein Arzthaftungsanspruch der Klägerin nicht begründet.

Der Klägerin sei der Nachweis nicht gelungen, dass die bei ihr eingetretene beidseitige Stimmbandlähmung allein darauf zurückzuführen sei, dass die als Teilresektion begonnene Operation intraoperativ zu einer totalen Entfernung des Schilddrüsengewebes erweitert wurde. Wie bereits das erstinstanzliche Gericht auf der Grundlage sachverständiger Beratung zutreffend festgestellt habe, sei eine Teilentfernung des Schilddrüsengewebes der Klägerin, nämlich zumindest im rechten und im Isthmus-Bereich, sowohl aus chirurgischer als auch aus internistischer und nuklearmedizinischer Sicht absolut indiziert gewesen. In eine solche Operation habe die Klägerin wirksam eingewilligt.

Mit dem gerichtlichen Sachverständigen sei davon auszugehen, dass die beidseitige Stimmbandlähmung der Klägerin dadurch entstanden sei, dass sich in der Nähe des Operationsgebietes eine Nachblutung eingestellt und entweder zur Herausbildung eines Hämatoms oder zur Einblutung in das Nervenhüllgewebe geführt habe. Hinsichtlich der Ursache der Nachblutung, einer kontinuierlich blutenden Vene unterhalb der bei der Erstoperation eröffneten Grenzlamelle, sei nach den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu beantworten, ob diese auch bei einer nur teilweisen Entfernung der Schilddrüse eingetreten wäre. Diese nicht überwindbare Unsicherheit bei der Aufklärung des tatsächlichen Behandlungsverlaufs gehe nach den zivilrechtlichen Grundsätzen der Beweislastverteilung im Arzthaftungsprozess zu Lasten der Klägerin, die aus der behaupteten Kausalität einen Schadensersatzanspruch herleiten wolle. Zwar habe der Sachverständige ausgeführt, dass die vorbeschriebene Nachblutung bei einer Teilresektion "nicht so wahrscheinlich" sei, wie bei dem umfangreicheren Eingriff in Gestalt einer Totalresektion. Eine weitere Festlegung habe er jedoch als spekulativ abgelehnt. Beispielsweise könne eine Zugwirkung an der Schilddrüse sowohl bei einer Teilresektion als auch bei einer Totalresektion auftreten. Letztlich habe der Sachverständige den Eintritt der bilateralen Recurrensparese hier als ein schicksalhaftes, für beide Operationsmaßnahmen auch bei facharztgerechter Behandlung typisches Ereignis bewertet. Dieser Einschätzung folge der Senat.

Die Klägerin trage die Beweislast für die Kausalität der wegen des festgestellten Aufklärungsmangels rechtswidrigen Operationserweiterung bzw. des als wahr unterstellten Behandlungsfehlers für die beidseitige Stimmbandlähmung. Das bedeute, dass die Klägerin im Prozess schon dann unterliege, wenn sie nicht beweisen könne, dass die Pflichtverletzung den Schaden verursacht habe bzw. dass der Schadenseintritt ohne die Pflichtverletzung zumindest sehr unwahrscheinlich gewesen wäre. Beweiserleichterungen kämen der Klägerin nicht zugute; auf einen groben Behandlungsfehler könne sie sich nicht berufen.

II.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde die Klägerin nicht ausreichend darüber aufgeklärt, dass während der Operation ggf. von der Teilresektion der Schilddrüse zu einer Totalresektion überzugehen war. Dies nimmt die Klägerin als ihr günstig hin. Die Bedenken, die die Revisionserwiderung insoweit vorbringt, sind unbegründet. Die Bejahung einer unzureichenden Aufklärung durch das Berufungsgericht beruht auf einer revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden tatrichterlichen Würdigung des Aufklärungsbogens, des vom Beklagten dargestellten Inhalts des Aufklärungsgesprächs und der Ausführungen des Sachverständigen.

2. Revisionsrechtlich ist zudem davon auszugehen, dass die behandelnden Ärzte die Entscheidung für eine Totalresektion verfrüht getroffen haben. Denn das Berufungsgericht lässt ausdrücklich dahinstehen, ob insoweit ein Behandlungsfehler festgestellt werden kann oder nicht.

3. Unter diesen Umständen durfte das Berufungsgericht die Klägerin nicht hinsichtlich des Kausalzusammenhangs zwischen der rechtswidrig, weil ohne ausreichende Aufklärung, und zudem auch behandlungsfehlerhaft vorgenommenen Operation und dem erlittenen Gesundheitsschaden als beweisfällig behandeln.

a) Den Ausführungen des Berufungsgerichts könnte - was die Revision zu Recht geltend macht - nicht gefolgt werden, wenn es auf S. 9 des angefochtenen Urteils hat zum Ausdruck bringen wollen, dass der Arzt nur haftet, wenn sein Fehler die alleinige Ursache für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Patienten ist. Nach allgemeinem Schadensrecht steht eine Mitursächlichkeit, und sei es auch nur im Sinne eines Auslösers neben erheblichen anderen Umständen, der Alleinursächlichkeit haftungsrechtlich in vollem Umfang gleich. Dies gilt auch für die Arzthaftung (BGH, Urt. v. 27.6.2000 - VI ZR 201/99, MDR 2000, 1247 = VersR 2000, 1282 f., m.w.N.). Etwas anderes kann allenfalls in dem - hier nicht vorliegenden - Fall der Teilkausalität gelten, wenn das ärztliche Versagen und ein weiterer, der Behandlungsseite nicht zuzurechnender Umstand abgrenzbar zu einem Schaden geführt haben (BGH v. 1.10.1996 - VI ZR 10/96, MDR 1997, 147 = VersR 1997, 362 [363], m.w.N.).

b) Rechtsfehlerhaft ist es auch, wenn das Berufungsgericht der Klägerin den Beweis dafür auferlegen will, dass die beabsichtigte rechtmäßige Teilresektion nicht zu denselben Beeinträchtigungen geführt hätte wie die tatsächlich durchgeführte rechtswidrige Operation. Steht fest, dass der Arzt dem Patienten durch rechtswidriges und fehlerhaftes ärztliches Handeln einen Schaden zugefügt hat, so muss der Arzt beweisen, dass der Patient den gleichen Schaden auch bei einem rechtmäßigen und fehlerfreien ärztlichen Handeln erlitten hätte (BGH v. 7.10.1980 - VI ZR 176/79, BGHZ 78, 209 [213 ff.] = MDR 1981, 218; v. 6.12.1988 - VI ZR 132/88, BGHZ 106, 153 [156] = MDR 1989, 437; v. 13.12.1988 - VI ZR 22/88, MDR 1989, 438 = VersR 1989, 289 f.; v. 15.3.2005 - VI ZR 313/03; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., Rz. C 151, m.w.N.). Auch soweit es darum geht, ob es zu einem schadensursächlichen Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung des Patienten gekommen wäre, liegt die Beweislast bei der Behandlungsseite (BGHZ 29, 176 [187]; v. 15.10.1968 - VI ZR 226/67, VersR 1969, 43 [44]; v. 14.4.1981 - VI ZR 39/80, VersR 1981, 677 [678]; vgl. auch die st.Rspr. zur Beweislast der Behandlungsseite bei der Behauptung hypothetischer Einwilligung des Patienten, z.B. BGHZ 29, 176 [187]; BGH v. 26.6.1990 - VI ZR 289/89, MDR 1990, 996 = VersR 1990, 1238 [1239], m.w.N.). Dies entspricht dem allgemeinen Grundsatz, wonach der Schädiger zu beweisen hat, dass sich ein hypothetischer Kausalverlauf bzw. eine Reserveursache ebenso ausgewirkt haben würde wie der tatsächliche Geschehensablauf (BGH, Urt. v. 25.11.1992 - VIII ZR 170/91, MDR 1993, 119 = VersR 1993, 754 [755 f.]; Oetker in MünchKomm/BGB, 4. Aufl., § 249 Rz. 218, m.w.N.).

4. Nach den Ausführungen des Berufungsgerichts lassen die gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen keine ausreichend sicheren Feststellungen dahingehend zu, dass der Gesundheitsschaden der Klägerin auch bei Durchführung einer Teilresektion entstanden wäre. Verbleibt es bei diesem Beweisergebnis, bleibt der Beklagte hinsichtlich der von ihm behaupteten Reserveursache beweisfällig. Dann wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob und inwieweit die weiteren Voraussetzungen für die geltend gemachten Ansprüche vorliegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1366771

NJW 2005, 2072

BGHR 2005, 1045

ZAP 2005, 877

AnwBl 2005, 153

ArztR 2006, 186

MDR 2005, 1109

MedR 2005, 467

VersR 2005, 942

GesR 2005, 359

ZGS 2005, 244

AusR 2005, 120

ProzRB 2005, 197

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