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BGH Beschluss vom 24.07.2019 - XII ZB 160/19

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Leitsatz (amtlich)

Ein ohne persönliche Untersuchung erstattetes Sachverständigengutachten ist für die Bestellung eines Betreuers grundsätzlich nicht verwertbar. Dieser Grundsatz besteht unabhängig davon, ob aus ärztlicher Sicht bereits auf der Grundlage anderer Erkenntnisse der sichere Schluss auf eine erkrankungsbedingte Betreuungsbedürftigkeit gezogen werden könnte (im Anschluss an Senat, Beschl. v. 11.7.2018 - XII ZB 399/17, FamRZ 2018, 1601).

 

Normenkette

FamFG § 280 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Ingolstadt (Beschluss vom 28.03.2019; Aktenzeichen 24 T 1772/18)

AG Neuburg a.d. Donau (Beschluss vom 13.09.2018; Aktenzeichen 2 XVII 129/18)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Neuburg a. d. Donau vom 13.9.2018 und der Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Ingolstadt vom 28.3.2019, den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei. Die in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Wert: 5.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene wendet sich gegen eine zwischenzeitlich aufgehobene Bestellung eines Betreuers.

Rz. 2

Das AG hat für den Betroffenen eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Vertretung des Betroffenen in einer Zivilsache einschließlich eines eventuellen Zwangsvollstreckungsverfahrens eingerichtet und die Beteiligte zu 1) zur Betreuerin bestellt. Dabei hat es sich auf ein Sachverständigengutachten gestützt, das in dem Zivilverfahren zur Frage der Prozessfähigkeit des Betroffenen eingeholt worden ist. Die Beschwerde des Betroffenen hat das LG nach Einholung eines "ergänzenden" Sachverständigengutachtens zurückgewiesen. Hiergegen hat der Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt. Während des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat das AG die Betreuung aufgehoben. Der Betroffene begehrt nunmehr die Feststellung, dass die genannten Beschlüsse ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

Rz. 3

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Entscheidungen von AG und LG sind verfahrensfehlerhaft ergangen und haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (Senat, Beschl. v. 29.1.2014 - XII ZB 330/13, FamRZ 2014, 649 Rz. 8) festzustellen ist.

Rz. 4

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht als verfahrensfehlerhaft, dass die Sachverständigengutachten, auf die die Instanzgerichte ihre Entscheidungen gestützt haben, nicht den Anforderungen des § 280 FamFG genügen.

Rz. 5

a) Nach § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG ist grundsätzlich vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung des Einwilligungsvorbehalts in einer förmlichen Beweisaufnahme nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (§ 30 Abs. 1 und 2 FamFG) ein Sachverständigengutachten zur Notwendigkeit der Maßnahme einzuholen. Gemäß § 280 Abs. 2 Satz 1 FamFG hat der Sachverständige den Betroffenen vor der Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu befragen. Ein ohne die erforderliche persönliche Untersuchung erstattetes Sachverständigengutachten ist grundsätzlich nicht verwertbar. Dieser Grundsatz besteht unabhängig davon, ob aus ärztlicher Sicht bereits auf der Grundlage anderer Erkenntnisse der sichere Schluss auf eine erkrankungsbedingte Betreuungsbedürftigkeit gezogen werden könnte (Senat, Beschl. v. 11.7.2018 - XII ZB 399/17, FamRZ 2018, 1601 Rz. 9 m.w.N.).

Rz. 6

b) Gemessen hieran sind die Sachverständigengutachten, die die Instanzgerichte ihren Entscheidungen zugrunde gelegt haben, verfahrensfehlerhaft zustande gekommen und damit nicht verwertbar.

Rz. 7

aa) Das AG hat entgegen § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG vor seiner Entscheidung kein Sachverständigengutachten eingeholt. Stattdessen hat es zur Begründung seiner Entscheidung ein Gutachten des Sachverständigen Dr. W. vom 16.1.2018 herangezogen, das in einem Zivilverfahren zur Frage der Prozessfähigkeit des Betroffenen eingeholt worden ist. Zwar steht dem Gericht aufgrund der Verweisung in § 30 Abs. 1 FamFG auch die Möglichkeit offen, nach § 411a ZPO eine Begutachtung des Betroffenen durch die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ganz oder teilweise zu ersetzen. Bei der Ermessensausübung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die inhaltlichen Anforderungen des § 280 Abs. 3 FamFG erfüllt sein müssen. Deshalb kommt die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren nur ausnahmsweise in Betracht, wenn sich dieses Gutachten auf die für das konkrete Betreuungsverfahren relevanten Gesichtspunkte erstreckt (Senat, Beschl. v. 16.11.2011 - XII ZB 6/11, FamRZ 2012, 293 Rz. 23).

Rz. 8

Diesen Anforderungen genügt das Sachverständigengutachten vom 16.1.2018 nicht. Gegenstand der Begutachtung war allein die Prüfung der Prozessfähigkeit des Betroffenen in einem seinerzeit anhängigen Zivilprozess. Folglich verhält sich dieses Gutachten weder zu den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuung noch zu der Frage, ob der Betroffene trotz seiner Erkrankung zu einer freien Willensbildung i.S.v. § 1896 Abs. 1a BGB in der Lage ist. Zudem wurde dieses Gutachten allein aufgrund der Aktenlage erstellt, weil der Betroffene nicht zu dem vom Sachverständigen anberaumten Untersuchungstermin erschienen war.

Rz. 9

bb) Das vom LG eingeholte Ergänzungsgutachten vom 12.2.2019 stellt ebenfalls keine taugliche Entscheidungsgrundlage dar, weil der Betroffene vor der Erstellung des Gutachtens von dem Sachverständigen erneut nicht persönlich untersucht und das Gutachten nur aufgrund der Aktenlage erstellt worden ist. Dass der Betroffene nicht zum Untersuchungstermin erschienen ist, ließ die Verpflichtung des Sachverständigen zu dessen persönlicher Untersuchung nicht entfallen. Das LG hätte vielmehr eine Vorführung des Betroffenen nach § 283 FamFG erwägen müssen (vgl. Senat, Beschl. v. 20.8.2014 - XII ZB 179/14, FamRZ 2014, 1917 Rz. 11 m.w.N.). Weshalb das LG von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, lässt sich der angefochtenen Entscheidung nicht entnehmen. Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall eine Vorführung nach § 283 FamFG außer Verhältnis zum Verfahrensgegenstand stünde (vgl. Senatsbeschluss vom 3.12.2014 - XII ZB 355/14, FamRZ 2015, 486 Rz. 13 m.w.N.), ergeben sich aus der landgerichtlichen Entscheidung ebenfalls nicht.

Rz. 10

2. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde auch, dass das LG unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung des Betroffenen entschieden hat.

Rz. 11

a) Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so ist eine erneute Anhörung des Betroffenen dagegen geboten (vgl. Senat, Beschl. v. 2.12.2015 - XII ZB 227/12, FamRZ 2016, 300 Rz. 9).

Rz. 12

b) Einer der von der Senatsrechtsprechung anerkannten Ausnahmefälle, in denen das Betreuungsgericht das Verfahren nach § 34 Abs. 3 FamFG auch ohne persönliche Anhörung des Betroffenen beenden kann (vgl. Senat, Beschl. v. 17.5.2017 - XII ZB 18/17, FamRZ 2017, 1323 Rz. 8 f.), liegt hier nicht vor. Es ist weder vom LG festgestellt noch anderweitig ersichtlich, dass die gem. § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig gewesen wäre und außerdem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind, den Betroffenen anzuhören bzw. sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Im Übrigen hat der Betroffene in einem Schreiben vom 16.11.2018 angegeben, dass er einer Anhörung ohne Anwesenheit des Betreuers und von Mitarbeitern des Landratsamts folgen würde. Weshalb das LG von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, ergibt sich aus dem angegriffenen Beschluss nicht, zumal das LG offensichtlich zunächst selbst eine Anhörung des Betroffenen für erforderlich gehalten hat.

Rz. 13

c) Danach durfte das LG von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht absehen, weil es seine Entscheidung hauptsächlich auf das von ihm neu eingeholte Sachverständigengutachten vom 12.2.2019 gestützt hat.

Rz. 14

3. Der Betroffene ist durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Rechten verletzt. Die gerichtliche Bestellung eines Betreuers bewirkt für den unter Betreuung Gestellten einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff. Denn die Einrichtung einer Betreuung kann den Betreuten nicht nur in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) beschränken, sondern sie greift auch gewichtig in das Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Aus diesem Grunde kann der Betroffene sein Rehabilitationsinteresse in einem erledigten Betreuungsverfahren regelmäßig durch einen Feststellungsantrag nach § 62 FamFG zur Geltung bringen (vgl. Senat, Beschl. v. 24.10.2012 - XII ZB 404/12, FamRZ 2013, 29 Rz. 10).

Rz. 15

Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtenen Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel eines rechtswidrigen Eingriffs in das grundrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung des Betroffenen hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. Senatsbeschlüsse v. 24.10.2012 - XII ZB 404/12, FamRZ 2013, 29 Rz. 10; v. 16.5.2018 - XII ZB 542/17, FamRZ 2018, 1196 Rz. 14 m.w.N.).

Rz. 16

Werden - wie hier - in einer durch Zeitablauf erledigten Betreuungssache die instanzgerichtlichen Entscheidungen auf Gutachten gestützt, die den Anforderungen des § 280 FamFG nicht genügen, ist dieser Verfahrensfehler so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag. Ebenso gehört die persönliche Anhörung des Betroffenen nach § 278 Abs. 1 FamFG zu den grundlegenden Verfahrensprinzipien in Betreuungssachen. Die Nichtbeachtung dieser Vorschrift bedeutet regelmäßig einen gravierenden Verfahrensfehler im vorgenannten Sinne.

Rz. 17

4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

 

Fundstellen

Haufe-Index 13383689

NJW 2019, 8

FamRZ 2019, 1735

FuR 2019, 663

NJW-RR 2019, 1345

JurBüro 2019, 612

BtPrax 2019, 249

JZ 2019, 689

MDR 2019, 1210

FF 2019, 422

GesR 2019, 747

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