Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorgreiflicher Rechtsstreit i. S. § 74 FGO kann in besonders gelagerten Fällen auch bei demselben Senat anhängig sein

 

Leitsatz (NV)

Wird der Änderungsbescheid angefochten und nicht nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gegen den ursprünglichen Bescheid gemacht, so ist in entsprechender Anwendung des § 74 FGO das Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid auszusetzen (Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Hieran hat sich unter der Geltung des § 68 Satz 2 i. d. F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 nichts geändert (BFH-Beschluß vom 11. Februar 1994 III B 127/93, BFHE 173, 14, BStBl II 1994, 658). Da der Änderungsbescheid -- solange er Bestand hat -- dem ursprünglichen Bescheid die Grundlage entzieht, ist das Verfahren über den ursprünglichen Bescheid selbst dann auszusetzen, wenn es beim selben Senat desselben FG anhängig ist, wie das Verfahren über den Änderungsbescheid.

 

Normenkette

FGO §§ 68, 74, 143 Abs. 1

 

Tatbestand

Das Finanzgericht (FG) hatte mit Beschluß vom 15. Oktober 1993 das Klageverfahren betreffend Gewerbesteuer-Meßbetrag 1982 nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ausgesetzt, weil es die Entscheidung über das ebenfalls bei ihm anhängige Verfahren betreffend Gewerbesteuer-Meßbetrag 1980 für vorgreiflich hielt. Mit Schreiben vom 22. August 1994 regte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) an, das Verfahren wieder aufzunehmen; er werde einen entsprechenden Abhilfebescheid für 1980 wie auch für 1982 erlassen. Durch Beschluß vom 22. September 1994 hob daraufhin das FG seinen Beschluß vom 15. Oktober 1993 auf und führte das Verfahren unter neuem Aktenzeichen fort.

Mit der Beschwerde begehrt der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), den Beschluß des FG aufzuheben und das Verfahren unverändert auszusetzen.

Der Kläger hat gegen den Änderungsbescheid vom 29. September 1994 zunächst erfolglos Einspruch eingelegt und anschließend Klage erhoben. Diese ist unter dem Aktenzeichen ... beim FG anhängig.

Das FA hält die Beschwerde für unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Es fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil die einfachere Möglichkeit der Rechtsverwirklichung gewesen wäre, mit neuen Argumenten einen neuen Aussetzungsantrag beim FG zu stellen. Jedenfalls komme eine Aussetzung des Verfahrens aber deshalb nicht in Betracht, weil kein Streit über ein vorgreifliches Rechtsverhältnis bei einem anderen Gericht anhängig sei.

Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig.

Gegen die Aufhebung der Aussetzung des Verfahrens ist gemäß § 128 Abs. 2 und 1 FGO die Beschwerde statthaft. Entgegen der Auffassung des FA ist das Rechtsschutzbedürfnis für die Beschwerde gegeben. Da das FG der Beschwerde abhelfen kann, wenn es sie für begründet hält (§ 130 Abs. 1 FGO), ist nicht erkennbar, weshalb die erneute Antragstellung beim FG gegenüber der Beschwerde das einfachere Verfahren sein soll.

Die Beschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluß des FG ist aufzuheben, weil die Fortführung des davon betroffenen Verfahrens durch das Klageverfahren gegen den geänderten Gewerbesteuer-Meßbescheid 1982 vom 29. September 1994 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. Dezember 1994 gehindert ist.

Wird der Änderungsbescheid angefochten und nicht nach § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gegen den ursprünglichen Bescheid gemacht, so ist in entsprechender Anwendung des § 74 FGO das Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid auszusetzen (ständige Rechtsprechung seit dem Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Hieran hat sich unter der Geltung des § 68 Satz 2 i. d. F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 nichts geändert (BFH-Beschluß vom 11. Februar 1994 III B 127/93, BFHE 173, 14, BStBl II 1994, 658). Die vorstehenden Grundsätze gelten auch dann, wenn -- wie im vorliegenden Fall -- die Klageverfahren gegen den ursprünglichen Bescheid und den Änderungsbescheid bei demselben Senat desselben Gerichts anhängig sind. Zwar setzt § 74 FGO grundsätzlich voraus, daß der vorgreifliche Rechtsstreit bei einem anderen Gericht anhängig ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 74 FGO Tz. 2 c). Abgesehen davon, daß diese Vorschrift bei Rechtsmitteln sowohl gegen den ursprünglichen Bescheid als auch gegen den Änderungsbescheid nicht unmittelbar zur Anwendung kommt, unterscheidet sich dieser Fall aber wesentlich von den übrigen von § 74 FGO erfaßten Fällen. Dem anhängigen Verfahren gegen den ursprünglichen Bescheid ist die Grundlage entzogen. Denn der ursprüngliche Bescheid kann solange keine Rechtswirkungen entfalten, wie der Änderungsbescheid Bestand hat. Die Aussetzung des Verfahrens gegen den ursprünglichen Bescheid ist deshalb selbst dann gerechtfertigt, wenn die Klageverfahren gegen den ursprünglichen Bescheid und den Änderungsbescheid bei demselben Senat desselben FG anhängig sind (vgl. auch BFH-Beschluß vom 13. März 1985 II B 32/84, BFH/NV 1986, 221). Da die Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens gegeben sind, kann der auf die Fortführung des Verfahrens gerichtete Beschluß des FG keinen Bestand haben.

Eine Kostenentscheidung entfällt, weil durch die Beschwerdeentscheidung kein Verfahren i. S. des § 143 Ab. 1 FGO beendet worden ist (vgl. BFH-Beschluß vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803).

 

Fundstellen

Haufe-Index 420911

BFH/NV 1996, 220

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