1 Allgemeines

 

Rz. 1

Die zum Abschluss des Arbeitsvertrags abgegebene Willenserklärung jeder Partei kann unter den Voraussetzungen der §§ 119 ff. BGB angefochten werden. Die Anfechtung wird insbesondere nicht durch die Kündigungsregeln verdrängt.[1] Das Anfechtungsrecht wird auch nicht durch eine vorherige Kündigung "verbraucht".[2] Kündigungsverbote sind für die Wirksamkeit einer Anfechtung nicht zu beachten, da Kündigung und Anfechtung verschiedene Gestaltungsrechte sind.[3]

 
Hinweis

Nach der h. M. muss der Arbeitgeber vor einer Anfechtung nicht gem. § 102 BetrVG den Betriebsrat anhören.[4]

Für die Anfechtung ist eben kein zukunftsbezogener Kündigungsgrund erforderlich. Bei einer Anfechtung ist auch keine Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 103 BetrVG erforderlich, wenn ein Arbeitsverhältnis mit einem Betriebsratsmitglied aufgelöst werden soll. Hinsichtlich des Vorliegens der Anfechtungsgründe trägt der Anfechtende die Darlegungs- und Beweislast.[5] Anfechtbar ist auch der Widerspruch gegen einen Betriebsübergang, da mit dem Widerspruch ein Gestaltungsrecht durch eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ausgeübt wird.[6]

[1] So die ganz h. M.: BAG, Urteil v. 5.12.1957, 1 AZR 594/56, BAGE 5 S. 159 161; BAG, Urteil v. 28.3.1974, 2 AZR 92/73, AP BGB § 119 Nr. 3; in der neueren Rechtsprechung anerkannt BAG, Urteil v. 20.3.2014, 2 AZR 1071/12, BAGE 147 S. 358. Picker ZfA, 1981, S. 1 ff.; in der neueren Literatur teilweise selbstverständlich vorausgesetzt, s. z. B. Söhl, ArbrAktuell 2014, S. 166.
[3] Benecke in MünchArbR, § 38, Rz. 23,
[4] BAG, Urteil v. 11.11.1993, 2 AZR 467/93, AP BGB § 123 Nr. 38; Thüsing in Richardi, § 102 BetrVG, Rz. 28; a. A. Gamillscheg, AcP 176, 1976, S. 197, 218; Hönn, ZfA 1987, S. 61, 89; Wolf/Gangel, ArbuR 1982, S. 271, 276.

2 Anfechtungsgründe

2.1 Inhalts- und Erklärungsirrtum (Abs. 1)

 

Rz. 2

Die auf den Abschluss des Arbeitsvertrags gerichteten Willenserklärungen können wie jede andere Willenserklärung gemäß Abs. 1 angefochten werden, wenn bei ihrer Abgabe ein Inhalts- oder Erklärungsirrtum vorlag. Ein Erklärungsirrtum liegt dann vor, wenn der Erklärende eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte. Bei einem Inhaltsirrtum irrt der Erklärende über die rechtliche Bedeutung seiner Willenserklärung.[1] Anders als beim Erklärungsirrtum entspricht zwar der äußere Tatbestand dem Willen des Erklärenden, er irrt sich jedoch über die Bedeutung oder die Tragweite seiner Erklärung.[2] Für eine Anfechtung gemäß Abs. 1 gelten keine arbeitsrechtlichen Besonderheiten.[3] Bereits nach dem Wortlaut der Bestimmung (deren Inhalt) kann ein Irrtum über die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung nur dann als Inhaltsirrtum zur Anfechtung der abgegebenen Willenserklärung berechtigen, wenn diese Rechtsfolgen selbst (ausdrücklich oder stillschweigend) Inhalt der rechtsgeschäftlichen Erklärung sind. Nicht nach Abs. 1 anfechtbar sind dagegen Erklärungen, die auf einem im Stadium der Willensbildung unterlaufenen Irrtum im Beweggrund[4] – Motivirrtum – oder auf einer Fehlvorstellung über die Rechtsfolgen beruhen, die sich nicht aus dem Inhalt der Erklärung ergeben, sondern insbesondere kraft Gesetzes eintreten.[5] So stellt ein Irrtum über die sozialrechtlichen Folgen einer Altersteilzeitvereinbarung nebst Freistellungsvereinbarung als bloßer Irrtum über die Rechtsfolgen einer Erklärung keinen zur Anfechtung nach Abs. 1 berechtigenden Inhaltsirrtum dar.[6] Ebenfalls kein Anfechtungsrecht hat in der Regel der Arbeitnehmer, der eine Erklärung über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ungelesen oder als der deutschen Sprache nicht mächtiger Ausländer unverstanden unterschreibt.[7] Auch der Arbeitnehmer, der einen Aufhebungsvertrag unterschreibt, weil er sich nicht darüber bewusst ist, dass der Abschluss dieses Vertrags eine Sperrzeit hinsichtlich des Bezugs von Arbeitslosengeld zur Folge haben kann, unterliegt einem Motivirrtum.[8] Wer alles unterschreibt, der ist mit allem einverstanden. So berechtigt auch der Eintritt einer über die tatsächlich gewollte Rechtsfolge hinausgehenden ungewollten Nebenfolge nicht zur Anfechtung wegen Irrtums.[9] Wer keine Vorstellung hat von dem, was er unterschreibt, der hat auch keine bewusste Fehlvorstellung.

[1] Benecke in MünchArbR, § 38, Rz. 25, 27.
[3] Preis in ErfK, § 611a BGB, Rz. 349; Benecke in MünchArbR, § 38, Rz. 25.; Söhl ArbrAktuell 2014, S. 16.
[5] BAG, Urteil v. 24.4.2014, 8 AZR 429/12, NZA 2015, 185, 186 f.; kritisch in Bezug auf diese Differenzierung Armbrüster in MüKoBGB, § 119, Rz. 81.

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