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BSG Beschluss vom 20.08.2008 - B 13 R 217/08 B

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Rüge einer Überraschungsentscheidung

 

Orientierungssatz

1. Wird als Verfahrensmangel die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) geltend gemacht, so liegt ein solcher Verstoß nur vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können (vgl BSG vom 4.8.2004 - B 13 RJ 167/03 B).

2. Um aufzuzeigen, dass ein Verfahrensbeteiligter von der Entscheidung des Berufungsgerichts überrascht worden sein könnte, muss dargelegt werden, dass die Entscheidung nach bisherigem Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl BSG vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B und BSG vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B).

 

Normenkette

SGG §§ 62, 128 Abs. 2, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Sächsisches LSG (Urteil vom 31.03.2008; Aktenzeichen L 7 R 225/05)

SG Leipzig (Urteil vom 13.01.2005; Aktenzeichen S 3 RA 32/01)

 

Gründe

Mit Urteil vom 31.3.2008 hat das Sächsische Landessozialgericht (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit verneint.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich auf Verfahrensfehler.

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Beschwerdebegründung vom 16.7.2008 genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht, weil keiner der in § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) genannten Zulassungsgründe ordnungsgemäß bezeichnet worden ist.

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) , so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden ( BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36) . Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht ( BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36) .

Wird als Verfahrensmangel die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes) geltend gemacht, so liegt ein solcher Verstoß nur vor, wenn das Gericht seiner Pflicht, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen, nicht nachgekommen ist oder sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützt, zu denen sich die Beteiligten nicht haben äußern können ( Senatsbeschluss vom 4.8.2004 - B 13 RJ 167/03 B, Juris RdNr 8) . Dementsprechend sind insbesondere Überraschungsentscheidungen verboten. Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Grundlagen gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn der Rechtsstreit dadurch eine unerwartete Wendung nimmt (vgl dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Komm, 8. Aufl 2005, § 62 RdNr 8a und 8b mwN) . Zur Begründung eines entsprechenden Revisionszulassungsgrundes ist nicht nur der Verstoß gegen diesen Grundsatz selbst zu bezeichnen, sondern auch darzutun, welches Vorbringen dadurch ggf verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 36) . Darüber hinaus ist für den Erfolg einer entsprechenden Rüge Voraussetzung, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl Senatsbeschluss vom 4.8.2004 aaO; BSG SozR 1500 § 160a Nr 36; Keller aaO, § 62 RdNr 11c) .

Die Klägerin rügt eine Verletzung des § 128 Abs 2 SGG. Sie trägt vor: Das LSG habe mit Schreiben vom 27.12.2007 den Beteiligten mit Hinweis auf ein für sie günstiges Gutachten des Sachverständigen Dr. L. seine Rechtsauffassung mitgeteilt und zugleich einen für sie günstigen Vergleichsvorschlag unterbreitet. Mit Urteil vom 31.3.2008 habe es dann jedoch im Wesentlichen unter Berufung auf einen von der Beklagen vorgelegten medizinischen Fachaufsatz eines Dr. H. eine für sie negative Entscheidung getroffen, ohne den Beteiligten zuvor in der mündlichen Verhandlung seine geänderte Beweiswürdigung und Rechtsauffassung mitzuteilen. Bei einem entsprechenden Hinweis des Gerichts hätte ihre Prozessbevollmächtigte beantragt, den Sachverständigen Dr. L., die weiteren in dem Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen und Dr. H. (ergänzend) schriftlich oder mündlich anzuhören sowie ggf ein "Obergutachten" einzuholen.

Mit diesem Vorbringen macht die Klägerin eine Überraschungsentscheidung geltend und rügt damit eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs. Aus dem von ihr geschilderten Vorgehen des LSG ergibt sich der behauptete Verfahrensfehler jedoch nicht.

Um aufzuzeigen, dass sie von der Entscheidung des LSG überrascht worden sein könnte, hätte sie darlegen müssen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts nach bisherigem Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl BSG vom 5.3.2007 - B 4 RS 58/06 B, Juris RdNr 8; vom 21.9.2006 - B 12 KR 24/06 B, Juris RdNr 9) . Dies hat die Klägerin nicht getan. Sie trägt selbst vor, dass der von dem LSG mit Schreiben vom 27.12.2007 unterbreitete Vergleichsvorschlag weder von ihr noch von der Beklagten angenommen worden sei. Sowohl sie als auch die Beklagte hatten dann, wie sie vorträgt, in ihren - ablehnenden - Stellungnahmen zum Vergleichsvorschlag ihre jeweils hiervon abweichenden Standpunkte vorgetragen und begründet, um das Gericht hiervon zu überzeugen. Das LSG wiederum war - gerade aus dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs - verpflichtet, diese Stellungnahmen zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen.

Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs hat ua zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben müssen ( BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5; SozR 3-1500 § 128 Nr 14 ). Vor allem in der mündlichen Verhandlung, dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ( Senatsbeschluss vom 5.8.2004 - B 13 RJ 206/03 B, Juris RdNr 6; BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 ), ist den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern. In dieser Hinsicht werden von der Klägerin keine Beanstandungen erhoben. Über den Schriftsatz der Beklagten vom 17.1.2008 sowie über den hierin in Bezug genommenen Aufsatz des Dr. H. war sie nach ihrem eigenen Vorbringen informiert. Damit aber kann sie sich nicht darauf berufen, sie habe mit einer Entscheidung des LSG in dieser Richtung nicht rechnen können. Eine Überraschungsentscheidung in dem Sinne, dass ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter mit ihr nicht zu rechnen brauchte ( BSG vom 5.12.2001 - B 7 AL 166/01 B, Juris RdNr 6 ), liegt nämlich bereits dann nicht mehr vor, wenn sich das LSG im Urteil (entweder seinem Vergleichsvorschlag oder aber dem) Standpunkt eines der Beteiligten angeschlossen hat; hiermit muss ein sorgfältiger Prozessbevollmächtigter rechnen ( vgl Bundesverfassungsgericht vom 13.6.1990 - 2 BvR 673/90; Bundesfinanzhof vom 15.6.2007 - IX B 20/07, Juris RdNr 3; vom 10.6.2005 - IV B 44/05, Juris RdNr 8 f; vom 19.4.2005 - XI B 243/03, Juris RdNr 41 f: keine Überraschungsentscheidung bei Abweichung von einem in einem Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung unterbreiteten Vergleichsvorschlag; Oberlandesgericht Koblenz vom 11.7.2005 - 12 U 702/04, Juris RdNr 17 ).

Soweit die Klägerin rügt, über die im angefochtenen Urteil vorgenommene Beweiswürdigung nicht informiert worden zu sein, gibt es keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auf eine in Aussicht genommene, bestimmte Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, Senatsbeschluss vom 5.8.2004 aaO; BSG vom 5.3.2007 aaO, Juris RdNr 9; vom 21.9.2006 aaO; vom 17.2.1999 - B 2 U 141/98 B, Juris RdNr 10; vom 21.6.2000, SozR 3-1500 § 112 Nr 2) .

Auch hat die Klägerin nicht dargetan, dass sie ihrerseits alles Erforderliche getan habe, sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Dass sie keine Gelegenheit gehabt hätte, sich in der mündlichen Verhandlung vom 31.3.2008 zum Verfahrensstand und zum Prozessstoff sachgemäß zu äußern, behauptet die Klägerin nicht. Sie trägt nicht vor, dass es in der mündlichen Verhandlung nicht möglich gewesen sei, im Hinblick auf die ablehnende Haltung der Beklagten und die Ausführungen des Dr. H. vorsorglich zu beantragen (und nicht nur "anzuregen"), Dr. L. oder einen anderen Sachverständigen (ergänzend) zu den sozialmedizinischen Auswirkungen des generalisierten Fibromyalgie-Syndroms zu hören. Sie behauptet auch nicht, dass das LSG sie daran gehindert habe.

Sofern die Klägerin rügt, das Berufungsgericht habe sich im Rahmen seiner Beweiswürdigung bei der Ablehnung der von Dr. L. aufgrund des von ihm diagnostizierten generalisierenden Fibromyalgie-Syndroms getroffenen Leistungsbeurteilung nicht nur auf den Aufsatz des Dr. H. stützen dürfen, und sie deshalb die vom LSG vorgenommene Beweiswürdigung für unzureichend hält, ist ihr Vortrag nicht geeignet, die Revisionsinstanz zu eröffnen. Denn Fragen der Beweiswürdigung im Einzelnen sind im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG von vornherein unerheblich, weil nach der genannten Vorschrift der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann.

Sofern die Klägerin mit ihrem Vorbringen einen Fehler des LSG bei der Sachaufklärung geltend machen will, kann sie hierauf die Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls nicht stützen. Denn auf die Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) kann ein geltend gemachter Verfahrensmangel nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die Stellung eines Beweisantrags behauptet die Klägerin jedoch nicht. Die Rüge des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass der behauptete Verfahrensmangel der unzureichenden Sachaufklärung in die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs eingekleidet wird (vgl Senatsbeschluss vom 20.1.1998, SozR 3-1500 § 160 Nr 22) .

Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG iVm § 169 Satz 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2072757

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