Rz. 160

Im Beschluss vom 14.12.2023 führte der 6. Senat – auf derselben Linie wie die Äußerungen seiner Vorsitzenden in der Lit.[1] – zusammengefasst Folgendes aus: Die MERL (anders als ihr Entwurf) und §§ 17 ff. KSchG enthielten keine ausdrückliche Sanktionsregelungen für Fehler im Massenent­lassungsverfahren. Durch Art. 6 MERL werde lediglich den Mitgliedstaaten auferlegt, dafür zu sorgen, dass den Arbeitnehmervertretern und/oder den Arbeitnehmern administrative und/oder gerichtliche Verfahren zur Durchsetzung der Verpflichtungen nach der MERL zur Verfügung stehen. Deshalb müssten Sanktionen für Fehler im Massenentlassungsverfahren von den Mitgliedstaaten im nationalen Recht gefunden werden. Die Sanktionen müssten denjenigen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartiger Verstöße gegen nationales Recht gölten. Die Sanktion müsse dabei wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Der Äquivalenzgrundsatz, der Effektivitätsgrundsatz (effet utile) und das Verhältnismäßigkeitsprinzip seien zu beachten. Die nationalen Gerichte hätten in eigener Zuständigkeit festzustellen, ob das nationale Recht diesen Anforderungen genüge und ob und ggf. welche Sanktionen sich dem nationalen Recht nach den dafür geltenden Regeln überhaupt entnehmen ließen.[2]

 

Rz. 161

Bei Anwendung dieser Grundsätze erfülle § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG bereits die Anforderungen an ein Verbotsgesetz i. S. d. § 134 BGB nicht. Das Anzeigeverfahren regele nicht das "Ob", sondern nur das "Wie" von Kündigungen. Es verlange nur die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens und diene nicht der Verhinderung der Kündigung. Es schaffe lediglich "administrativ-prozedurale Verpflichtungen außerhalb des Arbeitsverhältnisses".[3] Das Anzeigeverfahren verfolge einen arbeitsmarktpolitischen Zweck. Die Anzeige habe zwar mittelbar auch individualschützende Wirkung; diese sei aber lediglich Reflex und nicht Zweck des Anzeigeverfahrens.[4] Darum gebiete § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG als Sanktion für Verstöße gegen die darin geregelten Pflichten nicht die Nichtigkeit der vom arbeitsförderungsrechtlichen Pflichtenkreis gar nicht berührten Kündigung, sondern nur eine arbeitsförderungsrechtliche Sanktion. Zudem sei die Nichtigkeit der Kündigung eine nicht angemessene und unverhältnismäßige Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren. Fehler im Anzeigeverfahren würden strenger bestraft als andere Fehler im deutschen Kündigungsschutzrecht. Der Eingriff in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers und die Nachteile für ihn stünden nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu den dadurch erlangten Vorteilen für das Erreichen der vom Gesetzgeber mit der Anzeigepflicht verfolgten arbeitsmarktpolitischen Ziele.[5] Zudem ließe sich ein stringentes Sanktionssystem nur gewinnen, wenn alle denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren nicht zur Nichtigkeit der Kündigung führten.[6]

 

Rz. 162

Fehler im Konsultationsverfahren hätten hingegen die Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB zur Folge. Diese Sanktion genüge dem Effektivitätsgrundsatz und sei vom Äquivalenzgrundsatz geboten. Das Konsultationsverfahren regele ein kollektives Informationsrecht und solle es u. a. dem Betriebsrat ermöglichen, dem Arbeitgeber konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, um Massenentlassungen zu verhindern oder zu beschränken. Wie bei § 102 BetrVG sei ein Einfluss des Betriebsrats auf die Willensbildung des Arbeitgebers intendiert. Hinter der in § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG geregelten Sanktion der Unwirksamkeit der Kündigung könne daher die Sanktion für Fehler im Konsultationsverfahren nicht zurückbleiben.[7]

[1] Vgl. EuArbRK/Spelge, RL 98/59/EG Art. 6 Rn. 1 ff., 6 ff., 21 ff.
[3] BAG, Vorlagebeschluss v. 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), NZA 2024, 119, Rz. 14, 17 f., 25.
[5] BAG, Vorlagebeschluss v. 14.12.2023, 6 AZR 157/22 (B), NZA 2024, 119, Rz. 22, 29, 36, 37, 39.

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