Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Gesamtschau der Einzelumstände

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft.

2. Eine zu Beginn der Erkrankung angetretene rund 10-stündige Bahnfahrt eines als Chefarzt beschäftigten Arbeitnehmers zum Familienwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, lässt ohne Hinzutreten weiterer Umstände die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers belastbare Tatsachen vorhanden sind, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen.

2. Ob der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert anzusehen ist, ergibt sich aus einer Gesamtschau der Einzelumstände. Ausgangspunkt dafür ist die geschuldete Arbeitsleistung, nach der sich bestimmt, ob der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist oder nicht.

 

Normenkette

EFZG § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 S. 2; SGB V § 275 Abs. 1a; BUrlG § 9

 

Verfahrensgang

ArbG Stralsund (Entscheidung vom 29.11.2022; Aktenzeichen 2 Ca 151/22)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 29.11.2022 - 2 Ca 151/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, insbesondere die Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Der im September 1956 geborene Kläger ist Facharzt für Orthopädie. Am 01.01.2020 nahm er bei der Beklagten, die eine Reha-Klinik betreibt, eine Beschäftigung als Chefarzt für die orthopädische Abteilung auf. Die Parteien vereinbarten im Arbeitsvertrag eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden bei einem Gehalt von € 12.500 brutto monatlich, das spätestens zum 10. des Folgemonats zu zahlen ist. Der Kläger unterhielt eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befindet sich annähernd 1000 km entfernt in Süddeutschland.

Mit Schreiben vom 16.08.2021, der Beklagten zugegangen am 17.08.2021, kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis innerhalb der arbeitsvertraglich vereinbarten Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Monatsende zum 28.02.2022.

In dem Zeitraum nach Ausspruch der Kündigung war der Kläger wie folgt arbeitsunfähig:

Zeitraum

Kalendertage

Krankheitsbild

ICD-10-Code

20.09. - 24.10.2021

35

Anpassungsstörung, vornehmlich stress- bzw. burnoutbedingt

15.11.2021

1

Migräne

G43.9

24.11. - 26.11.2021

3

Unerwünschte Nebenwirkungen bei Anwendung von COVID-19-Impfstoffen, Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen

U12.9, R51, R11

14.12. - 20.12.2021

7

COVID-19-Infektion, Infektion der oberen Atemwege

U07.1, J06.9

19.01.2022

1

Gastroenteritis

K52.9

02.02.2022

1

Migräne

G43.9 G

Am Dienstagnachmittag, 08.02.2022, sagte der Kläger die Teilnahme an einer regelmäßig stattfindenden Dienstbesprechung aus gesundheitlichen Gründen ab. Am darauffolgenden Tag meldete er sich bei der Beklagten krank und fuhr mit der Bahn (1. Klasse) rund zehn Stunden zu seinem Familienwohnsitz in Süddeutschland. Am Donnerstag, 10.02.2022, stellte die behandelnde Ärztin dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 09.02. - 21.02.2022 aus, die der Beklagten am 22.02.2022 zuging. In dem nachgereichten ärztlichen Attest zu dieser Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ausgestellt am 26.10.2022, heißt es:

"...

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erfolgte vom 09.02.2021 bis 21.02.2021 wegen folgender Diagnosen:

• Hypertonie

• Kopfschmerzen

• HWS-Syndrom

• Myogelosen

Der Patient stellt sich mit starken Kopfschmerzen bei neu diagnostizierter Hypertonie mit mehrfach erhöhten Blutdruckwerten bis 220mmHg systolisch vor. Es wurde eine 24h-Blutdruckmessung durchgeführt, die die Diagnose bestätigte. Blutdruckeinstellung mit Anpassung der Medikation erfolgte hier in der Praxis. Gleichzeitig fanden sich starke Myogelosen im Schulter-Nackenbereich mit Bewegungseinschränkungen der HWS. Flexion und Rotation ist schmerzbedingt kaum möglich.

..."

Ab dem 22.02.2022 trat der Kläger seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub an. Am 01.03.2022 nahm er in einer anderen Reha-Klinik auf der XXXXX XXXXXX eine neue Beschäftigung als Oberarzt auf.

Die Beklagte zahlte dem Kläger für Februar 2022 lediglich ein Bruttogehalt in Höhe von € 6.875,00. Die Zeit vom 09.02. - 21.02.2022 vergütete sie nicht. Mit anwaltlichem Schreiben vom 05.04.2022 forderte der Kläger erfolglos die restliche Vergütung für den Monat Februar 2022 ein.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass ihm für den Zeitraum 09.02. - 21.02.2022 ein Anspruch auf Entgeltf...

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