Rz. 1

§ 39 AO ist keine verfahrensrechtliche Vorschrift, sondern eine Vorschrift des materiellen Steuerschuldrechts.[1] Sie regelt die persönliche Zurechnung von Wirtschaftsgütern. Diese bestimmt darüber, welche Person oder Personenvereinigung Steueransprüche zu erfüllen hat, die aus der Herrschaft über das Wirtschaftsgut hergeleitet werden.[2] Für die Beurteilung der objektiven Seite der steuerrechtlichen Tatbestandsverwirklichung ist die Vorschrift ohne Bedeutung.[3]

 

Rz. 2

§ 39 AO ist nach dem Regel-Ausnahmeprinzip aufgebaut. Abs. 1 stellt den Grundsatz auf, dass Wirtschaftsgüter dem Eigentümer zuzurechnen sind.

Für den Fall, dass ein anderer als der Eigentümer die tatsächliche Herrschaft über ein Wirtschaftsgut in der Weise ausübt, dass er den Eigentümer im Regelfall für die gewöhnliche Nutzungsdauer von der Einwirkung auf das Wirtschaftsgut ausschließen kann, schreibt Abs. 2 Nr. 1 S. 1 abweichend davon vor, dass das Wirtschaftsgut diesem zuzurechnen ist. Die Vorschrift ist Ausdruck der wirtschaftlichen Betrachtungsweise[4] und verfassungsrechtlich unbedenklich.[5]

Für die praktisch besonders bedeutsamen Fälle von Treuhandverhältnissen, Sicherungseigentum und Eigenbesitz zieht Abs. 2 Nr. 1 S. 2 ausdrücklich die sich daraus ergebende Konsequenz der Zurechnung des Wirtschaftsguts auf den Treugeber, den Sicherungsgeber und den Eigenbesitzer. Derjenige, dem das Wirtschaftsgut nach Abs. 2 Nr. 1 anstelle des rechtlichen Eigentümers zuzurechnen ist, wird allgemein als "wirtschaftlicher Eigentümer" bezeichnet. Abs. 2 Nr. 2 bestimmt, dass Wirtschaftsgüter, die mehreren zur gesamten Hand zustehen, den Beteiligten anteilig zugerechnet werden, soweit eine getrennte Zurechnung für die Besteuerung erforderlich ist. Die Vorschrift trifft eine Regelung für den Fall, dass die steuerrechtlichen Vorschriften eine an die Rechtszuständigkeit zur gesamten Hand anknüpfende Besteuerung nicht zulassen. Anders als in den Fällen der Nr. 1 geht es daher nicht um das Auseinanderfallen von rechtlicher und tatsächlicher Herrschaft über das Wirtschaftsgut, sondern um eine Inkongruenz zwischen zivilrechtlicher Form und Besteuerungstatbestand.

 

Rz. 3

Die in § 39 Abs. 2 Nr. 1 S. 2 und Nr. 2 AO getroffenen Regelungen waren bereits in § 11 StAnpG enthalten. Lediglich der Grundsatz der Zurechnung auf den (zivilrechtlichen) Eigentümer (Abs. 1) und die generalklauselartige Umschreibung des wirtschaftlichen Eigentums in Abs. 2 Nr. 1 S. 1 wurden mit dem Inkrafttreten der AO 1977 neu in das Gesetz aufgenommen.

Auf § 11 StAnpG geht auch die Verwendung der Begriffe "Eigentümer" und "Eigenbesitzer" zurück, die den Anwendungsbereich der Vorschrift bei buchstäblicher Auslegung auf Sachen i. S. d. § 90 BGB verengen würde, weil nur an diesen Eigentum und Eigenbesitz bestehen kann.[6] Es ist aber allgemein anerkannt, dass § 39 AO für Wirtschaftsgüter aller Art gilt[7] und der Begriff "Eigentümer" daher stellvertretend für den des zivilrechtlich Berechtigten steht.

 

Rz. 4

Von der zivilrechtlichen Berechtigung abweichende Zurechnungen sind auch außerhalb des Steuerrechts anzutreffen. Das gilt z. B. im Insolvenzrecht[8], im Zwangsvollstreckungsrecht[9] sowie im Handels- und Gesellschaftsrecht. Bei der (handelsrechtlichen) Bilanzierung von Wirtschaftsgütern wird nicht auf das bürgerliche Eigentum abgestellt, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten verfahren. Bei wirtschaftlichem Eigentum[10], Sicherungseigentum und Treuhandverhältnissen stimmt die handelsrechtliche Zurechnung mit derjenigen gem. § 39 Abs. 2 S. 1 AO überein.[11]

[1] Ebenso BFH v. 6.9.1995, II R 128/91, BFH/NV 1996, 197; Schmieszek, in Gosch, AO/FGO, § 39 AO Rz. 3.
[4] Fischer, in HHSp, AO/FGO, § 39 AO Rz. 1; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 39 AO Rz. 1; Schmieszek, in Gosch, AO/FGO, § 39 AO Rz. 3.
[5] Koenig/Koenig, AO, 3. Aufl. 2014, § 39 Rz. 1.
[6] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 39 AO Rz. 4; Schmieszek, in Gosch, AO/FGO, § 39 AO Rz. 19.
[7] Schmieszek, in Gosch, AO/FGO, § 39 AO Rz. 6.
[8] Vgl. das Absonderungsrecht gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 InsO bei Sicherungseigentum.
[9] Z. B. in Form des Widerspruchsrechts des Vorbehaltskäufers und des Treugebers gem. § 771 ZPO gegen Vollstreckungsmaßnahmen der Gläubiger des Vorbehaltsverkäufers und des Treuhänders.
[11] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 39 AO Rz. 14.

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