Leitsatz (amtlich)

Die Ausübung des gerichtlichen Ermessens bei der Kostenregelung nach § 138 Abs. 1 FGO wird durch Billigkeitserwägungen und den bisherigen Sach- und Streitstand bestimmt. Zum Inhalt dieser Ermessenselemente.

 

Normenkette

FGO § 138 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer hatte gegen die Festsetzung von Grunderwerbsteuer am 25. Mai 1973 selbst Einspruch eingelegt und gleichzeitig die Aussetzung der Vollziehung " bis zur Entscheidung über diesen Einspruch" beantragt. Unmittelbar nach Eingang der Einspruchsbegründung, die der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers gefertigt hatte und in der an die Aussetzung der Vollziehung erinnert worden war, hatte der Beschwerdegegner (FA) die Vollziehung des angefochtenen Grunderwerbsteuerbescheids "bis 10 Tage nach der Bekanntgabe der Entscheidung über den ... Einspruch" ausgesetzt. Diese Verfügung war an den Beschwerdeführer (nicht an seinen Bevollmächtigten) gerichtet und an diesen absandt worden.

Das FA wies den Einspruch zurück.

Zugleich mit der Einreichung der Klage, über die bisher noch nicht entschieden ist, begehrte der Beschwerdeführer bei dem FG die Aussetzung der Vollziehung des Grunderwerbsteuerbescheids. Das FG stellte dem FA die Klage zusammen mit dem Aussetzungsantrag zu und setzte eine Frist zur Gegenäußerung bis zum 20. Dezember 1973. Am 17. Dezember 1973 entsprach das FA dem Aussetzungsantrag. Die Beteiligten erklärten die Hauptsache für erledigt.

Das FG hob die Kosten gegeneinander auf.

Mit der Beschwerde begehrt der Beschwerdeführer weiterhin, die Kosten des Verfahrens dem FA aufzuerlegen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet.

1. Das FG hat seine Entscheidung über die Kosten zutreffend auf § 138 Abs. 1 FGO gestützt. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht, wenn ein Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist, nach billigem Ermessen über die Kosten; bei der Entscheidung ist der bisherige Sachund Streitstand zu berücksichtigen.

Hinsichtlich der Grundgedanken des § 138 Abs. 1 FGO geht der Senat - im wesentlichen im Einklang mit den Ausführungen des 1. Senats in dem Beschluß vom 10. November 1971 I B 14/70 (BFHE 104, 39, BStBl II 1972, 222) unter 3. - von folgendem aus: § 138 Abs. 1 FGO überläßt es dem Gericht, die Rechtsfolge für die abstrakt umschriebenen Sachverhalte - hier: die Kostenregelung - in erster Linie nach seinem Ermessen zu bestimmen. Das Gericht hat damit einen Spielraum, unter einer Mehrzahl möglicher, rechtlich zulässiger Entscheidungen zu wählen. Das bedeutet aber nicht, daß sein Entscheidungsspielraum unbegrenzt ist und die Kostenregelung im (uneingeschränkten) Belieben des Gerichts steht. Das eingeräumte Ermessen läßt grundsätzlich nur eine gesetzesakzessorische und gesetzesgelenkte Rechtsfolgebestimmung zu (Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 6. Aufl., § 2 StAnpG A 2).

§ 138 Abs. 1 FGO gibt darüber hinaus Richtlinien, die für das Gericht verbindlich sind:

Die Ermessensausübung durch das Gericht muß - zum einen - der Billigkeit entsprechen. Das bedeutet, daß für die richterliche Kostenentscheidung die Gerechtigkeitsidee, das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden bestimmend sein sollen. Damit wird aber der Begriff "billiges Ermessen" noch nicht voll ausgefüllt. Sein Inhalt läßt sich abstrakt nicht festlegen. Im Einzelfall sind in der Regel noch weitere Momente gegeben, die die richtige Ausübung des billigen Ermessens bei der Entscheidung mitbestimmen. Das können z. B. die Gründe sein, die eine Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache haben eintreten lassen oder auch Erwägungen darüber, ob bei vernünftiger Würdigung und Abwägung der Verhältnisse ein Anlaß zur (unmittelbaren) Anrufung des Gerichts gegeben war.

Da durchaus auch unterschiedliche Kostenregelungen dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entsprechen können, schreibt § 138 Abs. 1 FGO - zum anderen - die Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes vor. Die Vorschrift verweist damit auf das materielle Kostenrecht, dessen allgemeine Grundsätze sich insbesondere aus den §§ 135 Abs. 1, 136 Abs. 1, 137 und § 136 Abs. 2 und 3 FGO ergeben. Es würde dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, wenn bei der richterlichen Kostenregelung die Wertungen außer Betracht bleiben würden, die durch die (materiellrechtlichen) Kostenvorschriften des Gesetzes hinsichtlich der Kostenentscheidung in bestimmten Fällen festgelegt sind.

2. Im Streitfall hält der Senat im Ergebnis die Auffassung des FG für zutreffend und die getroffene Kostenregelung für angemessen.

Dafür ist zum einen maßgebend, daß das FA für die Dauer des Klageverfahrens den Antrag des Beschwerdeführers als begründet angesehen und ihm im wesentlichen entsprochen hat. Daraus läßt sich schließen, daß der Beschwerdeführer nach Auffassung des FA eine entsprechende Aussetzung der Vollziehung durch eine gerichtliche Entscheidung erreicht haben würde. Daß das FA dem Antrag des Beschwerdeführers - (zeitlich unbefristete) Aussetzung der Vollziehung - nicht voll entsprochen hat, kann hier außer Betracht bleiben. Zwar hat der Beschwerdeführer durch die Entscheidung des FA - Aussetzung der Vollziehung "bis 10 Tage nach Bekanntgabe der Entscheidung über die ... Klage" - eine schwächere Rechtsposition als die begehrte erlangt. Er hat jedoch diese geringfügige zeitliche Einschränkung hingenommen, wie seiner Erledigungserklärung zu entnehmen ist.

Zum anderen vermag der Senat nicht zu erkennen, daß es nach den Verhältnissen im Streitfall der unmittelbaren Anrufung des Gerichts bedurfte, um die Aussetzung der Vollziehung zu erreichen. Das FA hatte die Vollziehung des angefochtenen Bescheids während des Einspruchsverfahrens unmittelbar nach Eingang der Einspruchsbegründung ausgesetzt und die Aussetzung auch nach Erhalt der Klage in angemessener Frist gewährt. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß es auch einem unmittelbar bei ihm eingereichten Aussetzungsantrag des Beschwerdeführers für die Zeit des Klageverfahrens entsprochen hätte. Wenn der Beschwerdeführer vorträgt, es seien "Anträge auf Aussetzung der Vollziehung ... am 25. Mai 1973 und am 25. Juni 1973" gestellt worden, "ohne daß der Beschwerdegegner ihnen nachgekommen wäre", so ist das unverständlich. Aus den dem Senat vorliegenden Akten geht hervor, daß die Aussetzung der Vollziehung von dem FA am 27. Juni 1973 verfügt und eine entsprechende Mitteilung am selben Tage an den Antragsteller, den Beschwerdeführer persönlich, abgesandt worden ist. Eine Vollstreckung des FA aus dem angefochtenen Bescheid schied damit aus. Von dieser Sachlage ist auch das FG in seiner Entscheidung ausgegangen. Das Verhalten des FA ist nicht zu beanstanden. Zutreffend weist zwar der Beschwerdeführer darauf hin, daß die Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde von Amts wegen geprüft werden muß. Das setzt aber voraus, daß der Behörde die Begründung des Einspruchs und/oder die Erhebung einer Klage und deren Begründung bekannt sind. Erst dann kann geprüft werden, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids i. S. der Rechtsprechung des BFH (vgl. u. a. Beschluß vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182) bestehen. Im Streitfall hat das FA diese Prüfung in angemessener Frist vorgenommen und die Vollziehung von sich aus ausgesetzt.

3. Der Senat teilt die abweichende Auffassung des Beschwerdeführers nicht.

Ob § 93 ZPO im finanzgerichtlichen Verfahren sinngemäß anzuwenden (§ 155 FGO) oder ob dies, wie der Beschwerdeführer unter Hinweis auf den Beschluß des Niedersächsischen FG vom 8. März 1973 II 123/72 A (EFG 1973, 444, Nr. 458) meint, zu verneinen ist, kann für den Streitfall dahingestellt bleiben. Dem Senat erscheint es richtig, die Grundgedanken des § 93 ZPO bei der Ermessensentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO zu berücksichtigen. Es könnte nicht als sachgerechte Ausübung billigen Ermessens angesehen werden und widerspräche dem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden, wenn bei unmittelbarer Anrufung des Gerichts Fälle, die im tatsächlichen unterschiedlich gelagert sind, hinsichtlich der Kostenregelung gleich behandelt würden (z. B.: die Behörde hatte einen Aussetzungsantrag zuvor abgelehnt; die Behörde hatte schon während des Einspruchsverfahrens die Vollziehung ausgesetzt). Die Verhältnisse des Einzelfalles müssen vielmehr auch insoweit in die Ermessensentscheidung nach § 138 Abs. 1 FGO einbezogen werden und können nicht als unerheblich außer Betracht bleiben. Ihre Würdigung im Rahmen des billigen Ermessens ist unabhängig davon, ob für die unmittelbare Anrufung des Gerichts ein Rechtsschutzbedürfnis gegeben ist.

Die gesetzlich eingeräumte Wahlmöglichkeit wird dem Beschwerdeführer dadurch nicht abgeschnitten. Es ist zwar richtig, daß § 69 FGO den Steuerpflichtigen die Möglichkeit einräumt, die Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde oder bei dem Gericht zu beantragen. Ob sich schon aus der Systematik des Gesetzes (der Abs. 2 des § 69 FGO steht vor Abs. 3) ein gewisser Vorrang entnehmen läßt, den Antrag zunächst bei der Behörde zu stellen, kann offen bleiben. Dem Beschwerdeführer wird die eingeräumte Wahlmöglichkeit nicht genommen. Es bleibt ihm überlassen, welches der gesetzlich vorgesehenen Verfahren er in Gang setzen will. Daß er bei unmittelbarer Anrufung des Gerichts - anders als bei einem von ihm selbst gestellten Antrag an die Behörde - ein gewisses Kostenrisiko eingeht, ist nichts außergewöhnliches. Ein solches Kostenrisiko entsteht in der Regel mit jeder Anrufung des Gerichts. Dabei ist gleichgültig, ob sich dieses Risiko letztlich in einer Kostenentscheidung nach den materiell-rechtlichen Kostenvorschriften des Gesetzes niederschlägt oder in einer Kostenentscheidung i. S. des § 138 Abs. 1 FGO.

Ob, wie der Beschwerdeführer meint, die Antragstellung bei dem FA (§ 69 Abs. 2 FGO) höhere Kosten verursacht als die unmittelbare Antragstellung bei dem FG (§ 69 Abs. 3 FGO), braucht der Senat in dieser allgemeinen (und mehr theoretischen) Betrachtungsweise nicht zu prüfen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71070

BStBl II 1975, 41

BFHE 1975, 352

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