2.1 Problematik der fehlenden Teil-Arbeitsunfähigkeit

 

Rz. 7

Ist ein Erwerbstätiger arbeitsunfähig erkrankt, wird er automatisch für alle Tätigkeiten innerhalb seines Erwerbstätigkeitsspektrums von der Arbeitsleistung befreit; eine Teil-Arbeitsunfähigkeit gibt es nicht (§ 2 Abs. 1 AU-Richtlinie). Dieses Alles-oder-Nichts-Prinzip bewirkt, dass sich der Arbeitsunfähige – je länger seine Arbeitsunfähigkeit dauert – immer mehr vom Arbeitsprozess entwöhnt. Nach lang anhaltender Arbeitsunfähigkeit ist deshalb die Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz wegen der mit dem 1. Arbeitstag eintretenden vollen körperlichen, geistigen und psychischen Belastung des Arbeitnehmers erheblich erschwert. Deshalb besteht in der Praxis ohne dieses langsame "Herantasten" an die volle Leistungsfähigkeit – also ohne stufenweise Wiedereingliederung – solange Arbeitsunfähigkeit, bis der behandelnde Arzt meint, dass sein Patient den Belastungen des täglichen Arbeitsalltags nicht nur gewachsen ist, sondern dass er auch die Umstellung von der verhältnismäßig geruhsamen Zeit während der Arbeitsunfähigkeit in die Hektik des Arbeitsalltags ohne Rückfall übersteht.

Damit eine stufenweise Wiedereingliederung eingeleitet werden kann, müssen aus medizinischer Sicht sowohl

  • eine am Anfang ausreichende Grundbelastbarkeit

als auch

  • eine günstige Aussicht auf eine gelingende berufliche Wiedereingliederung

gegeben sein.

2.2 Wesen der stufenweisen Wiedereingliederung

 

Rz. 8

Ist ein Arbeitnehmer im Laufe der letzten 12 Monate länger als 6 Wochen arbeitsunfähig, muss ihm der Arbeitgeber die Möglichkeit eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) anbieten (§ 167 Abs. 2). Ziel des vertrauensbildenden Gesprächs ist die Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeitszeiten. Am Ende des BEM kann bei arbeitsunfähigen Arbeitnehmern auch die stufenweise Wiedereingliederung nach einem ärztlichen Stufenplan stehen. Unabhängig davon kann auch von dem behandelnden Arzt, einer Krankenkasse, einem anderen Rehabilitationsträger oder von weiteren Dritten eine stufenweise Wiedereingliederung angestoßen werden, damit der Arbeitsunfähige möglichst bald in einem geschützten Rahmen seine betriebliche Arbeit am bisherigen Arbeitsplatz wieder aufnehmen kann. Dabei muss sich die Prognose nicht zwingend auf das Ziel der Wiederherstellung der vollen Arbeitstätigkeit richten, auch wenn dies regelmäßig verfolgt wird (vgl. dazu BAG, Urteil v. 28.7.1999, 4 AZR 192/98). Auch die Befähigung zu einer nach Art, Dauer, zeitlicher und räumlicher Lage veränderten Arbeitstätigkeit kann Eingliederung in das Erwerbsleben sein (BAG, Urteil v. 13.6.2006, 9 AZR 229/05).

Im Rahmen der stufenweisen Wiedereingliederung wird der Erwerbstätige bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit individuell (je nach den Auswirkungen der Krankheit und der bisherigen Dauer der Arbeitsunfähigkeit und dem Gesundheits- bzw. Krankheitsgrad) schonend, aber kontinuierlich an die Belastungen seines Arbeitsplatzes herangeführt. Unter dem bisherigen Arbeitsplatz versteht man im Idealfall das bisherige Arbeitsumfeld mit zumindest vergleichbaren Tätigkeiten im selben Betrieb (Unternehmensbereich). Während der Eingliederungsphase kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer allerdings auch einen anderen Arbeitsplatz (Ersatzarbeitsplatz) zuweisen. Einen arbeitsrechtlichen Anspruch auf die gleiche Position wie vor der Erkrankung hat der Arbeitsunfähige während der stufenweisen Wiedereingliederung nicht, lediglich einen Anspruch auf eine arbeitsvertragsgemäße Beschäftigung.

Wird ein Arbeitnehmer auf einem Arbeitsplatz einer rechtlich selbstständigen Schwesterfirma an einem anderen Ort eingegliedert und soll er dann diesen neuen Arbeitsplatz behalten, kann man – sofern die Umorganisation aus medizinischen Gründen notwendig ist – nicht mehr von stufenweiser Wiedereingliederung i. S. d. § 44 sprechen. Zur Unterstützung dienen hier nicht mehr medizinische Rehabilitationsleistungen, sondern Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben i. S. d. §§ 49 ff.

Während des Wiedereingliederungsprozesses besteht die Arbeitsunfähigkeit und damit auch ein Anspruch auf Krankengeld oder vergleichbare Leistung fort (§ 2 Abs. 2 Satz 1 der AU-Richtlinien; Rz. 56 ff.).

Die stufenweise Wiedereingliederung erfolgt aus therapeutischen Gründen. Sie dient der Erprobung und dem Training der Leistungsfähigkeit des arbeitsunfähigen Versicherten an seinem bisherigen Arbeitsplatz; deshalb wird sie auch kontinuierlich ärztlich überwacht. Ergeben die regelmäßigen Untersuchungen eine Steigerung der Belastbarkeit, ist eine Anpassung der stufenweisen Wiedereingliederung vorzunehmen. Der Wiedereingliederungsplan kann im Bedarfsfall auch jederzeit verkürzt oder verlängert werden. Stellt sich während der Phase der Wiedereingliederung heraus, dass für die Versicherten nachteilige gesundheitliche Folgen erwachsen können, ist eine Anpassung an die Belastungseinschränkungen vorzunehmen oder die Wiedereingliederung abzubrechen. Ergibt sich während der stufenweisen Wiedereingliederung, dass die bisherige Tätigkeit auf Dauer krankheitsbedingt nicht mehr in dem Umfang wie vor der Arbeitsunfähig...

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