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BSG Beschluss vom 11.12.2002 - B 6 KA 13/02 B

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Beschluss. Ohne mündliche Verhandlung. Einverständnis. Grobe Fehleinschätzung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Berufungsgericht muss bei seiner Entscheidung, ob es im vereinfachten Verfahren gemäß § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden will, berücksichtigen, ob die Sach- und Rechtslage eine mündliche Erörterung mit den Beteiligten überflüssig erscheinen lässt und das Gericht nur noch darüber zu befinden hat, wie das Gesamtergebnis des Verfahrens zu würdigen und rechtlich zu beurteilen ist, was dann der Fall ist, wenn Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden müssen oder wenn etwa im Berufungsverfahren lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird.

2. Ist bei Abwägung aller zu berücksichtigender Umstände die Wahl des vereinfachten Verfahrens ohne mündliche Verhandlung gegen den ausdrücklichen Willen einiger Beteiligter unter keinen Umständen zu rechtfertigen, liegt eine grobe Fehleinschätzung vor.

 

Normenkette

SGG §§ 124, 153 Abs. 4, § 160a Abs. 5

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Beschluss vom 11.02.2002)

 

Tenor

Auf die Beschwerden des Klägers und der Beigeladenen zu 1. wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. Februar 2002 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der am 8. März 1930 geborene und seit dem 27. Mai 1959 zur vertragszahnärztlichen Tätigkeit zugelassene Kläger wendet sich gegen das vom Zulassungsausschuss festgestellte und vom beklagten Berufungsausschuss bestätigte Ende seiner Zulassung zur vertragszahnärztlichen Tätigkeit mit Ablauf des 1. Januar 1999. Er sieht in der gesetzlich vorgeschriebenen Beendigung der vertragszahnärztlichen Tätigkeit mit Vollendung des 68. Lebensjahres eine Verletzung seiner Grundrechte sowie des durch das Recht der Europäischen Gemeinschaft (EG) gewährleisteten Grundrechtsstandards.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Der Kläger und die zu 1. beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZÄV) haben Berufung eingelegt. Im Berufungsrechtszug hat der Kläger hilfsweise beantragt, den Rechtsstreit auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorzulegen, ob die „68er-Regelung” mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Die Beigeladene zu 1. hat beantragt, „zur Frage der Vereinbarkeit von Art 33 § 1 Abs 1 Satz 1 Gesundheitsstrukturgesetz, wonach die vertragszahnärztliche Zulassung für Zahnärzte, die am 1. Januar 1999 das 68. Lebensjahr vollendet haben, am 1. Januar 1999 geendet hat, mit Art 6 Abs 2 EU-Vertrag eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art 234 Abs 1a iVm Abs 3 EG-Vertrag einzuholen.”

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Beschluss der Berufsrichter auf der Grundlage des § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufungen zurückgewiesen.

Mit ihren gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss gerichteten Beschwerden macht die Beigeladene zu 1. Verfahrensfehler des Berufungsgerichts geltend (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Sie rügt die unzureichende Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG), weil das Gericht auf ihren ausdrücklichen Antrag, die Sache nach Art 234 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) dem EuGH vorzulegen, nicht eingegangen sei. Die Unterlassung der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nach Art 234 EGV stelle eine Verletzung des gesetzlichen Richters nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG dar. Schließlich habe das LSG die Beteiligten zu seiner beabsichtigten Zurückweisung der Berufung durch Beschluss der Berufsrichter entgegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG nicht ordnungsgemäß angehört. Eine ordnungsgemäße Anhörung des beklagten Berufungsausschusses habe schon deshalb nicht stattfinden können, weil zu dem Zeitpunkt, als die Anhörungsmitteilung erging, der Beklagte keinen Vorsitzenden gehabt habe und deshalb nicht handlungsfähig gewesen sei. Schließlich habe sich das Berufungsgericht ermessensfehlerhaft für eine Entscheidung durch Beschluss entschieden, obwohl sie – die Beigeladene zu 1. – die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung ausführlich begründet habe. Im Übrigen macht sie geltend, der Rechtsstreit führe zur Entscheidung von rechtsgrundsätzlich bedeutsamen Fragen (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

Der Kläger schließt sich der Beschwerdebegründung der Beigeladenen zu 1. an.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerden sind begründet.

Die von der Beigeladenen zu 1. gerügten Verfahrensmängel einer fehlerhaften Anwendung des § 153 Abs 4 SGG sowie einer unzureichenden Gewährung rechtlichen Gehörs liegen vor. Eine Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes gemäß § 202 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung.

Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG, außer in den Fällen, in denen das SG durch Gerichtsbescheid entschieden hat, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, bei Vorliegen der im Gesetz genannten Voraussetzungen ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen „kann”). Diese Entscheidung kann im Revisionsverfahren nur darauf geprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaften Gebrauch gemacht hat, etwa wenn der Beurteilung sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zu Grunde liegen (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 4 aaO; Nr 13 S 38). Im vorliegenden Fall beruht die Entscheidung des LSG, nach § 153 Abs 4 SGG zu verfahren, erkennbar auf einer solchen Fehleinschätzung.

Die mündliche Verhandlung, auf der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig entscheiden (§ 124 Abs 1 SGG), ist gleichsam das „Kernstück” des gerichtlichen Verfahrens und verfolgt den Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Nur wenn die Sach- und Rechtslage eine mündliche Erörterung mit den Beteiligten überflüssig erscheinen lässt und das Gericht nur noch darüber zu befinden hat, wie das Gesamtergebnis des Verfahrens gemäss § 128 SGG zu würdigen und rechtlich zu beurteilen ist, ist das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäss § 124 Abs 2 SGG sinnvoll (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Nicht erforderlich ist eine mündliche Verhandlung nur dann, wenn der Sachverhalt umfassend ermittelt worden ist, so dass Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden müssen, oder wenn etwa im Berufungsverfahren lediglich der erstinstanzliche Vortrag wiederholt wird. Diese Funktion und Bedeutung der mündlichen Verhandlung muss das Berufungsgericht auch bei seiner Entscheidung berücksichtigen, ob es im vereinfachten Verfahren gemäss § 153 Abs 4 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden will. Demgemäß sind für diese Ermessensentscheidung die Schwierigkeit des Falles und die Bedeutung von Tatsachenfragen relevant. Ist bei Abwägung aller danach zu berücksichtigender Umstände die Wahl des vereinfachten Verfahrens ohne mündliche Verhandlung gegen den ausdrücklichen Willen einiger Beteiligter unter keinen Umständen zu rechtfertigen, liegt eine grobe Fehleinschätzung im obigen Sinne vor (BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38).

So ist der Fall hier zu beurteilen. Zwar waren im Berufungsrechtszug keine Tatsachen festzustellen und keine tatsächlichen Umstände aufzuklären, doch hat die Beigeladene zu 1. in ihrer Berufungsbegründung, in der sie zugleich zu der Anhörungsmitteilung des Berichterstatters auf der Grundlage des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG ablehnend Stellung genommen hat, auf einen rechtlichen Aspekt hingewiesen, der im bisherigen Verfahrensgang ersichtlich keine besondere Rolle gespielt hat. Sie hat eingehend dargestellt, weshalb sie der Auffassung ist, die Vorschriften des nationalen Rechts über die Beendigung der vertragszahnärztlichen Zulassung mit Vollendung des 68. Lebensjahres bzw – für ältere Zahnärzte – spätestens zum 1. Januar 1999 stünden mit Art 6 Abs 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) nicht im Einklang.

Ob der in Art 6 Abs 2 EUV angesprochene Grundrechtsstandard, auf den die Beigeladene zu 1. in diesem Zusammenhang abhebt, Bedeutung für die Vereinbarkeit der genannten nationalen Vorschriften mit europäischem Recht hat, obwohl der Fall keinen Auslandsbezug aufweist und auch das Handeln von Organen der EG nicht in Rede steht, ist jedenfalls keine Rechtsfrage, deren Erörterung mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung, die von diesen ausdrücklich gewünscht wird, von vornherein entbehrlich erscheint. Das Berufungsgericht hätte in dieser Situation entweder mündlich verhandeln oder zumindest vor einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG den Beteiligten zu erkennen geben müssen, weshalb es auch unter dem Gesichtspunkt des Art 6 Abs 2 EUV keinen Erörterungsbedarf sieht. Dies hätte insbesondere der Beigeladenen zu 1. Gelegenheit zu näherem Vortrag gegeben.

Nach Aktenlage ist zudem nicht sicher, dass das LSG den gegenüber den rechtlichen Darlegungen des Klägers im erstinstanzlichen Verfahren neuen und rechtlich substanziierten Vortrag der Beigeladenen zu 1. überhaupt sachlich zur Kenntnis genommen hat. Zwar wird der auf Einholung einer Vorabentscheidung gerichtete Antrag der Beigeladenen zu 1. im Tatbestand des Beschlusses erwähnt, doch geht die Beschlussbegründung auf diesen Aspekt mit keinem Wort ein. Sie spricht die Vereinbarkeit der Regelungen über die Altersgrenze von Vertragsärzten und Vertragszahnärzten mit den Vorschriften des EGV über die Dienstleistungsfreiheit und den Warenverkehr an, die bisher schon Gegenstand der Rechtsprechung insbesondere des Bundessozialgerichts (BSG) war (BSGE 83, 135 = SozR 3-2500 § 98 Nr 4). Das hatte die Beigeladene zu 1. ausdrücklich nicht in Frage gestellt, sondern in ihrem Schriftsatz vom 10. Dezember 2001 darauf hingewiesen, dass es ihr allein um die Klärung der Vereinbarkeit der Vorschriften über die Altersgrenze für Vertragszahnärzte mit dem Grundrechtsstandard nach Art 6 Abs 2 EUV gehe. Wenn ein Beteiligter substanziiert und mit einer eingehenden, durch Hinweise auf Rechtsprechung und Literatur belegten Begründung eine genau bezeichnete Rechtsfrage für allein entscheidend hält, wird das Gericht nur in besonders gelagerten Fällen seiner Verpflichtung, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner rechtlichen Würdigung zu berücksichtigen, entsprechen können, ohne das Ergebnis seiner Entscheidung zumindest in gedrängter Form zu begründen. Andernfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass es den entsprechenden Vortrag jedenfalls nicht in angemessener Form zur Kenntnis genommen und damit das rechtliche Gehör der Beteiligten nicht hinreichend gewahrt hat. So liegen die Dinge hier.

Nach § 160a Abs 5 SGG in der seit dem 2. Januar 2002 geltenden Fassung des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl I 2150) kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn – wie hier – die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Der Senat lässt offen, ob das BSG über die ausdrücklich in § 160a Abs 5 SGG eingeräumte Befugnis hinaus auch in der Sache selbst entscheiden darf, wenn eine fehlerfreie Anwendung der verletzten Verfahrensvorschriften zwangsläufig die Zurückweisung der Berufung zur Folge haben würde (vgl zur Parallelvorschrift des § 133 Abs 6 Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫, BVerwG Buchholz 310 nF § 133 Nr 22 sowie Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage, 2002, § 160a RdNr 19e). Ein solcher Fall liegt nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat von der Möglichkeit der Durchentscheidung in der Sache in einem Fall Gebrauch gemacht, in dem bei verfahrensmäßig korrekter Behandlung der Streitsache durch die Instanzgerichte die Klage ohne weiteres als unzulässig abgewiesen werden musste. Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, weil zwischen den von der Beigeladenen zu 1. und dem Kläger zu Recht gerügten Verfahrensfehlern hinsichtlich der Anwendung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG sowie der angemessenen Gewährung rechtlichen Gehörs und der Anwendung des Art 6 Abs 2 EUV bei der materiellen Prüfung des Klagebegehrens kein notwendiger Zusammenhang besteht.

Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1176682

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