Digitalisierung und KI: Das sollten Steuerberater wissen

Wie Dematerialisierung, Daten und Künstliche Intelligenz die Steuerberatung verändern und warum Steuerberater einen anderen Blick darauf wagen sollten

Vom vielbeschworenen Untergang der Steuerberatung ist in Ihrer Kanzlei wahrscheinlich wenig bis nichts zu spüren.

Wahrscheinlich können Sie es nicht mehr hören. Überall wird die dringende Notwendigkeit zur Digitalisierung beschworen. Selbsternannte Experten sagen nun bereits seit Jahren den immer wieder kurz bevorstehenden Untergang der Steuerberatung voraus. Steuer-Apps, Big Data und künstliche Intelligenz sollen Ihren Berufsstand grundlegend verändern. In den extremsten Szenarien wird Ihre Expertise als Steuerberater als überflüssig dargestellt. Vielleicht können Sie über derartige Untergangsszenarien nur lachen. Schließlich haben Sie die „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ überlebt, wobei es hier nichts zum Überleben gab.

Das deutsche Steuersystem wehrt sich trotzig und sehr erfolgreich gegen alle Versuche einer Vereinfachung. Konsequenterweise ist vom vielbeschworenen Untergang der Steuerberatung in Ihrer Kanzlei wahrscheinlich wenig bis nichts zu spüren. Ähnlich läuft es mit der sogenannten Digitalisierung. Viele Steuerkanzleien realisieren bereits durch die Digitalisierung von internen und externen Geschäftsprozessen schöne Effizienzgewinne: Zum Beispiel scannen Sie Belege ein und halten sämtliche Belege in zentralen Datensystemen vor. Der digitale Steuerbescheid-Rücktransfer wäre eins von vielen weiteren Beispielen erfolgreicher Digitalisierungsinitiativen in den Kanzleien. Ist die Gefahr eines Bedeutungsverlustes der Steuerberatung durch Digitalisierung damit gebannt? Sie ahnen wohl schon, wie meine Antwort ausfällt: Leider nein!

Die bisherigen Digitalisierungsstrategien in den Kanzleien waren nicht hinreichend.

Die bisherigen Digitalisierungsstrategien in den Kanzleien waren wichtig und richtig. Sie waren notwendig, sind aber leider nicht hinreichend.

Als Wirtschaftsinformatiker begleite ich seit vielen Jahren Unternehmen verschiedenster Branchen auf ihrem Weg der sogenannten digitalen Transformation. Was habe ich auf diesem Weg gelernt? Ich habe gelernt, dass wir die Digitalisierung in ihrem Wesenskern begreifen müssen. Dabei geht es darum, die der Digitalisierung zugrunde liegende Logik, fern ab von allen Schlagwörtern, zu verstehen. Was Menschen, die die Digitalisierung angehen wollen, brauchen, ist eine „Brille“. Eine Brille mit deren Hilfe Sie auf Ihr Geschäftsmodell (Ihre Kanzlei) schauen können und dieses im Hinblick auf Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung selbst analysieren können.

Mit dieser Brille sollten Sie zunächst einmal den Begriff der Digitalisierung näher betrachten. Was heißt Digitalisierung? Geht es dabei besonders um technische Details wie binäre Codes, Bits und Bytes? Nein. Wer verstehen will, was Digitalisierung im Kern ausmacht, dem helfen technische Erklärungen leider nicht weiter. Die Technologie ist überall verfügbar. Sie muss richtig eingesetzt werden. Nur wie macht man das?

Digitalisierung = Dematerialisierung

Wir müssen erkennen, dass Digitalisierung im Kern nichts anderes als „Dematerialisierung“ ist. Was für ein schreckliches Wort. Hier soll es aber nicht darum gehen, einen verschwommenen Begriff durch einen genauso vagen zu ersetzen. Denn: Dematerialisierung kling abstrakt, ist aber ganz konkret. Schauen Sie auf Ihr Smartphone. Ihre Apps sind nichts anderes als Softwareprogramme, die Ihnen Dienste anbieten. Es gibt eine eine App fürs Telefon, eine für die Foto- und Videokamera, eine Straßenkarten-App, eine Musik-App, eine App für Emails, eine fürs Banking, eine für Flug- und Bahntickets, eine für Taxiservices, eine für die Zeitung etc. Kurz: Alles was Sie bisher physikalisch mit sich herumgeschleppt haben, Foto- und Videokamera, Flug- und Bahntickets, Zeitung, Straßenkarten, Briefe etc. wurde aus der physikalischen Welt der Atome in Bits und Bytes umgewandelt und auf Ihrem Smartphone gebündelt. Alle diese Dinge und viele, viele mehr wurden „dematerialisiert“. Somit ist die Digitalisierung in ihrem Kern nichts anderes, als ein großer Verschiebebahnhof, wo wir (fast) alles aus unserer physikalischen Welt in die digitale Welt verladen.

Alles, was wir mit dem Internet verbinden, enthält einen digitalen Zwilling.


Der Nutzen liegt darin, dass alles, was aus der physikalischen in die digitale Welt verschoben wird, einen „digitalen Zwilling“ bekommt. Was ist ein digitaler Zwilling? Wenn Sie im Internet etwas bestellt haben und ungeduldig auf die Lieferung Ihres Pakets warten, bietet Ihnen der Logistikdienstleister die Möglichkeit eines Trace & Tracking. Sie können Ihr Paket im Internet verfolgen. Wirklich Ihr Paket? Nein, Sie verfolgen nicht das physische Paket, sondern seinen digitalen Zwilling. Der digitale Zwilling ist dabei nichts anderes als ein paar Daten (ein Daten-Set), die Ihnen Auskunft darüber geben, zu welchem Zeitpunkt sich Ihr Paket an welchem Ort befindet.

Alles, was wir mit dem Internet verbinden, enthält einen digitalen Zwilling aus Daten. (Fast) Alles aus unserer Welt der Atome, also Materialien, Autos, Maschinen, Flugzeuge, Bankkonten, Geschäftsprozesse, künstliche Hüften, oder Ihr Herz (kein Witz!) kann einen digitalen Zwilling erhalten. Wie schon das Beispiel mit dem Paket zeigt: Mit Hilfe digitaler Zwillinge erhalten Sie eine bisher nicht gekannte freie Sicht (Transparenz) auf Ihre wirtschaftliche und auch private Welt. Tragen Sie einen Fitness-Tracker (AppleWatch, Fitbit, oder Ähnliches) an Ihrem Handgelenk? Dann haben Ihr Herz und Ihre Beine einen digitalen Zwilling.


Das ist die ziemlich einfache Logik der Digitalisierung: Zuerst Dematerialisierung durch „Verschiebung“ der physischen Objekte in die digitale Welt. Als Ergebnis erhält man viele Daten (Big Data), die man dann, ebenfalls digital (d.h. automatisiert, Software-gestützt), analysieren kann.


Digitale Zwillinge schaffen also eine bisher nicht gekannte Daten-Transparenz - in Echtzeit. Sie wissen damit immer, was in der physischen Welt los ist. Was das Geschäftsmodell der Steuerberatung bisher schützt ist, dass sehr viele Transaktionen noch keinen digitalen Zwilling besitzen. Belege und Rechnungen liegen meist nur analog vor. Sie müssen zuerst in die Computersysteme eingegeben werden. Im nächsten Schritt werden sie dann kontiert und gebucht. Sobald aber Belege und Rechnungen mit dem Zeitpunkt ihrer Entstehung dematerialisiert sind und einen digitalen Zwilling besitzen (bzw. letztlich ausschließlich digital existieren), lassen sich sämtliche steuerrelevanten Transaktionen automatisieren. Das ist die ziemlich einfache Logik der Digitalisierung: Zuerst Dematerialisierung durch „Verschiebung“ der physischen Objekte in die digitale Welt. Als Ergebnis erhält man viele Daten (Big Data), die man dann, ebenfalls digital (d.h. automatisiert, software-gestützt), analysieren kann. Hier kommt nun unser letztes Buzzword der Digitalisierung ins Spiel: Die „Künstliche Intelligenz“.

Künstliche Intelligenz bedeutet im Kern nichts anderes als eine „Industrialisierung von Problemfindung und Problemlösung“.


Was heißt Künstliche Intelligenz? Auch hier will ich nicht in die technischen Feinheiten aus Deep Learning, Maschine Learning und Künstlicher Intelligenz einsteigen. Stattdessen fragen wir: Was macht Künstliche Intelligenz im Kern aus? Künstliche Intelligenz bedeutet im Kern nichts anderes als eine „Industrialisierung von Problemfindung und Problemlösung“. Zugegeben, auch das klingt etwas sperrig. Dabei steht der Begriff der Industrialisierung schon immer für eine grundlegend veränderte Sichtweise auf Wertschöpfungsprozesse. So löste die industrielle Revolution einst tiefgreifende Veränderungen in der Güterproduktion aus. Die Wertschöpfung wurde aus den Manufakturen und Werkstätten in die Fabriken verlagert. Die entscheidende Erkenntnis hieraus: Sobald man einen Wertschöpfungsprozess industrialisieren kann, läuft er im Vergleich zur Werkstattfertigung schneller, billiger und einfacher ab. Die Wertschöpfung wird effizienter und man kann, bei gleichbleibend hoher Qualität und niedrigen Kosten, viel mehr produzieren.

Die Digitalisierung industrieller Geschäftsprozesse durch ERP-Systeme brachte einen weiteren Effizienzschub in unsere Wirtschaft. Und auch Dienstleistungsbranchen, wie z.B. Banken, Versicherungen und Steuerberatungen, konnten durch die Digitalisierung ihrer internen und externen Prozesse erhebliche Effizienzgewinne realisieren. Erkauft wurden diese Industrialisierungsvorteile mit Standardisierungs- und Normierungsvorgaben und damit mit eingeschränkter Flexibilität. Im schlimmsten Fall galt: „One size fits all“. Mittlerweile können wir aber an der Schnittstelle zum Kunden die Losgröße 1 realisieren. Digitale Fertigungsverfahren ermöglichen eine individuelle Produktion mit Kosten, die oftmals nur gering über denen einer Serienfertigung liegen. Wie Sie bemerkt haben, spreche ich hier über die Industrialisierung von betrieblichen Geschäftsprozessen. Die geistigen Prozesse, die im Rahmen von Problemerkennung und Problemlösung in einem Menschen ablaufen und gerade in Steuerberatung wichtig sind, waren davon bisher ausgespart. Das wird sich durch Künstliche Intelligenz ändern.

Künstliche Intelliegenz: Wenn Problemfindung und Problemlösung digitalisiert werden.

Digitale Technologien (Cloud-Anwendungen und Big Data) ermöglichen es, zusammen mit Künstlicher Intelligenz (KI) den „Prozess der Problemerkennung und Problemlösung“ nun ebenfalls zu automatisieren bzw. zu industrialisieren. Was heißt das? Der geistige Prozess der Entdeckung (und Lösung) von Problemen wird nicht mehr allein von Menschen, sondern auch mit Hilfe von Software ausgeführt. So kann ein KI-System, das Sie sich auf Ihr Smartphone laden können (Dematerialisierung!), einen Leberfleck mindestens so sicher wie ein Dermatologe als harmlos oder bösartig klassifizieren. Ein KI-System kann im Muster von Bank-Transaktionen betrügerische Handlungen identifizieren oder, anhand des Musters physikalischer Daten eines Flugzeugtriebwerks, einen möglichen Ausfall prognostizieren. Dies alles läuft ohne menschliches Zutun ab. Entgegen traditioneller Vorstellungen werden solche KI-Systeme auch nicht mehr von Menschen „angelernt“. Die KI lernt durch die permanente Analyse aller zur Verfügung stehender Daten. Sie identifiziert Muster, d.h. Regelmäßigkeiten in den Datenbeständen und „lernt“ daraus. Problemfindung und Problemlösung bzw. Beratung werden hierdurch automatisiert bzw. industrialisiert. Die Industrialisierung von Problemerkennung und Problemlösung durch KI wird Sie als Berater grundsätzlich noch besser machen. Voraussetzung ist, dass alle relevanten Daten digital und in Echtzeit zur Verfügung stehen.

Wohin wird diese Entwicklung führen? Es stehen zwei Extrem-Szenarien im Raum:

  • Szenario 1: Es bleibt alles ungefähr so, wie es heute ist.
     
  • Szenario 2: Die Beziehung zwischen Steuerbürger und Finanzverwaltung läuft über Bots (Robots) rein digital, dematerialisiert ab. Bots kennen Sie vielleicht in Form von Spracherkennungssystemen wie Amazon Alexa, oder Apple Siri. Diese Systeme sind mit einer Cloud verbunden, wo sie auf Daten sowie auf Analysetools zugreifen und Fragen beantworten können. In diesem Szenario liegen alle steuerrelevanten Daten vom Punkt ihrer Entstehung an rein digital vor. Sie werden dann von einem KI-System sofort analysiert und vor dem Hintergrund der aktuellsten Rechtsprechung der Finanzgerichte interpretiert. Das Ergebnis wird der Finanzverwaltung selbstverständlich digital übermittelt. Diese analysiert ihrerseits Ihre digitale Steuererklärung ebenfalls mit Hilfe von Bots und KI. Alle Prozessschritte sind hier digitalisiert und automatisiert. Die Problemlösungskompetenz wurde auf beiden Seiten vollständig industrialisiert. Nicht mehr Sie als Steuerberater kämpfen für den Mandanten, sondern ein KI-System.

Die Realität wird sich in den kommenden Jahren irgendwo zwischen diesen beiden Extremszenarien finden. Wobei man wohl unterstellen darf, dass man näher an Szenario Zwei als an Szenario Eins liegen wird.

Was ist in der Zwischenzeit zu tun?

Betrachten Sie ihr Geschäftsmodell aus der Perspektive von Digitalisierung, Dematerialisierung und Künstlicher Intelligenz. Werden Sie sich der Macht von Daten bewusst, welche die Grundlage aller aktueller und zukünftiger digitalen Geschäftsmodellen sein wird. Wenn Daten das Öl der Zukunft sind, dann müssen Steuerberatungen zu Daten-Raffinerien werden. Das sollte Sie nicht überraschen. Als Beratungs- und Wissensdienstleister hatten Sie als Steuerberater schon immer ein datengetriebenes Geschäftsmodell. Ohne Daten, deren Analyse, Aufbereitung und Transformation in für Mandanten relevantes Wissen, würde es keine Wertschöpfung in der Steuerberatung geben.

Die Nachfrage nach Beratung und Unterstützung rund um Steuererklärung, Buchhaltung etc. wird in Zukunft sicher eher noch zunehmen. Ebenso sicher erscheint es aber auch, dass sich das Wie dieser Beratung verändern wird.


Über den Autor

Prof. Dr. Stefan Stoll leitet seit 1997 den Studiengang Wirtschaftsinformatik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Er hat das Konzept des „Digital Thinking“ entwickelt. Darunter ist das Verständnis einer neuen, unserem herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Denken entgegengesetzten, Geschäftslogik des Silicon Valley gemeint. Als Hochschullehrer, Autor, Redner und Berater sensibilisiert Stoll für diese neue Denkweise und erarbeitet konkrete Massnahmen, um die digitalen Innovationen des Silicon Valley für traditionelle Geschäfte erschließen zu können.