Tz. 62

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Nach Art. 100 Abs. 1 GG hat jedes Gericht, das ein förmliches Gesetz, auf das es bei seiner Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält, nach näherer Maßgabe des § 80 BVerfGG unter Aussetzung des Verfahrens die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Voraussetzungen für einen solchen Vorlagebeschluss ist, dass es sich um ein nachkonstitutionelles Bundesgesetz handelt, welches für den konkreten Rechtsstreit eine entscheidungserhebliche Rolle spielt, und dass das vorlegende Gericht von dessen Verfassungswidrigkeit überzeugt ist (Pieroth in Jarass/Pieroth, Art. 100 GG, Rz. 6 ff. m. w. N.). Die Zulässigkeit einer Richtervorlage setzt voraus, dass das vorlegende Gericht darlegt, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Rechtsnorm abhängt und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm diese unvereinbar sein soll. Dabei ist für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht auf offensichtlich unhaltbaren rechtlichen Überlegungen oder tatsächlichen Würdigungen beruht (BVerfG v. 28.01.1981, 1 BvL 131/78, BVerfGE 56, 128 m. w. N.). Im Einzelnen bedeutet das für die Zulässigkeit der Richtervorlage folgendes: Ein Gericht kann eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Vorschriften nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es zuvor sowohl die Entscheidungserheblichkeit der Vorschriften als auch ihre Verfassungsmäßigkeit sorgfältig geprüft hat (BVerfG v. 12.05.1992, 1 BvL 7/89, BVerfGE 86, 71). Nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht angeben, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zu prüfenden Norm abhängig ist und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Diesem Begründungserfordernis genügt ein Vorlagebeschluss nur dann, wenn die Ausführungen des vorlegenden Gerichts auch erkennen lassen, dass es eine eingehende Prüfung vorgenommen hat. Wenngleich die Verfahrensakten nach § 80 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG dem Vorlagebeschluss beizufügen und dem BVerfG vorzulegen sind, muss der Vorlagebeschluss aus sich heraus, ohne Beiziehung der Akten verständlich sein und mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht bei Gültigkeit der Regelung zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie es dieses Ergebnis begründen würde (BVerfG v. 24.02.1987, 2 BvL 7/85, BVerfGE 74, 236; BVerfG v. 12.01.1993, 1 BvL 7/92, 1 BvL 27/92, 1 BvL 49/92, BVerfGE 88, 70). Zur eingehenden Darlegung der Entscheidungserheblichkeit muss der Vorlagebeschluss den entscheidungserheblichen Sachverhalt und eine umfassende Darlegung der die rechtliche Würdigung tragenden Erwägungen enthalten. Aus § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG folgt insoweit, dass sich das vorlegende Gericht eingehend mit der einfachrechtlichen Rechtslage auseinandersetzt, die in Rspr. und Lit. entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigt (BVerfG v. 17.01.1978, 1 BvL 13/76, BVerfGE 47, 109; BVerfG v. 20.02.2002, 2 BvL 5/99, BVerfGE 105, 61) und auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten eingeht (z. B. BVerfG v. 02.12.1997, 2 BvL 55/92, 2 BvL 56/92, BVerfGE 97, 49; BVerfG v. 20.02.2002, 1 BvL 19/97, 1 BvL 20/97, 1 BvL 21/97, 1 BvL 11/98, BVerfGE 105, 48).

Darüber hinaus muss das Gericht seine Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Norm näher darlegen und deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach unvereinbar ist. Auch insoweit muss sich das vorlegende Gericht mit naheliegenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten sowie der dazu ergangenen Rspr. und Lit. eingehend auseinandersetzen (BVerfG v. 12.05.1992, 1 BvL 7/89, BVerfGE 86, 71; BVerfG v. 02.12.1997, 2 BvL 55/92, 2 BvL 56/92, BVerfGE 97, 49). Die Darlegungen zur Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm müssen den verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nicht nur benennen, sondern auch die für die Überzeugung des Gerichts maßgebenden Erwägungen nachvollziehbar darlegen. Insoweit kann es auch erforderlich sein, die maßgeblichen Gesetzgebungsgründe zu erörtern (BVerfG v. 10.05.1988, 1 BvL 16/87, BVerfGE 78, 201; BVerfG v. 06.03.1990, 2 BvL 10/89, BVerfGE 81, 275; BVerfG v. 12.05.1992, 1 BvL 7/89, BVerfGE 86, 71). Rspr. und Lit. sind in die Argumentation einzubeziehen (BVerfG v. 10.05.1988, 1 BvL 8/82, 1 BvL 9/82, 1 BvL 8, 9/82, BVerfGE 78, 165; BVerfG v. 14.12.1993, 1 BvL 25/88, BVerfGE 89, 329). Dazu gehört auch, dass das vorlegende Gericht den Versuch einer verfassungskonformen Auslegung macht und darlegt, dass eine solche nicht möglich ist. Ansonsten ist die Vorlage unzulässig (vgl. z. B. BVerfG v. 16.12.2010, 2 BvL 16/09, FamRZ 2011, 453). Der Aussetzungsbeschluss beruht unmittelbar auf Art. 100 Abs. 1 GG, der § 74 FGO vorgeht. Das Verfahren wird wieder aufgenommen, wenn die Entscheidung des BVerfG ergangen ist (zur Aussetzung s. § 74 Rz. 3 ff.). Art. 100...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel). Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge