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BSG Urteil vom 10.02.1993 - 9/9a RV 4/92

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Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 22.02.1991)

SG Kiel (Urteil vom 27.04.1987)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. Februar 1991 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 27. April 1987 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt Versorgung nach ihrem 1983 an entschädigungsunabhängigen Leiden verstorbenen Ehemann W. … R. … (R.). Dieser bezog zum Zeitpunkt seines Todes Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH wegen Amputation des linken Oberarmes.

Der Beklagte lehnte den Antrag auf Witwenbeihilfe ab (Bescheid vom 14. Februar 1984; Widerspruchsbescheid vom 10. August 1984), weil die Hinterbliebenenversorgung durch Schädigungsfolgen nicht beeinträchtigt worden sei. In dem vor der Schädigung erlernten und ausgeübten Beruf als Bäcker hätte R. etwa ebensoviel verdient wie danach bis zum Bezug von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres als Angestellter in einer Bäckerei.

Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Kiel ≪SG≫ vom 27. April 1987). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten dem Grunde nach verurteilt, Witwenbeihilfe zu gewähren (Urteil vom 22. Februar 1991). Die Hinterbliebenenversorgung der Klägerin gelte nach § 48 Abs 1 Satz 2 BVG als hinreichend beeinträchtigt, weil R. zwar weder Berufsschadensausgleich (BSchA) bezogen noch beantragt aber für mindestens fünf Jahre Anspruch auf diese Leistung gehabt habe. Der für den Anspruch erforderliche Einkommensverlust sei iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch offenkundig. Er ergebe sich aus dem Beruf des Ehemannes und dafür veröffentlichten Einkommenstabellen im Vergleich mit dem tatsächlich erzielten Arbeitsentgelt. Der Beklagte habe einen Anspruch auf BSchA für die Zeit von Oktober 1966 bis März 1971, also für vier Jahre und sechs Monate errechnet. Auch danach habe ein solcher Anspruch bestanden, weil Altersruhegeld und betriebliche Zusatzversorgung zusammen unter dem Vergleichseinkommen gelegen hätten.

Der Beklagte macht mit der – vom BSG zugelassenen – Revision geltend, daß hier ein mindestens fünfjähriger Anspruch auf BSchA nicht klar erkennbar gewesen und deshalb die Voraussetzung des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG nicht erfüllt sei. Nach den über ihn geführten Versorgungsakten habe R. vor und nach der Schädigung offenbar im selben Beruf und im selben Betrieb gearbeitet. Eine schädigungsbedingte Einkommensminderung sei danach für die Verwaltung nicht ersichtlich gewesen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. Februar 1991 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 27. April 1987 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung kommt es nur darauf an, ob für mindestens fünf Jahre ein Anspruch auf BSchA bestanden hat. Diese Frage sei ebenso sorgfältig zu prüfen, wie die Minderung der Hinterbliebenenversorgung, um den nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG erforderlichen Prozentsatz. An „fehlender klarer Erkennbarkeit” des BSchA-Anspruchs dürfe der Anspruch auf Witwenbeihilfe nicht scheitern.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe, weil ihre Hinterbliebenenversorgung – unstreitig – nicht in dem nach § 48 Abs 1 Satz 1 BVG (hier idF der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 – BGBl I, 21, geändert durch Gesetz vom 23. Juni 1986 – BGBl I, 915 –) erforderlichen Umfang gemindert ist, und weil diese Voraussetzung auch nicht nach § 48 Abs 1 Satz 2 BVG aF (jetzt Satz 6) als erfüllt gilt.

Die gesetzliche Vermutung der Anspruchsvoraussetzung greift nicht deshalb ein, weil die Ermittlungen zur Anspruchsvoraussetzung selbst ergeben haben, daß der Ehemann der Klägerin mindestens fünf Jahre lang einen Anspruch auf Berufsschadensausgleich hätte verwirklichen können. Sinn und Zweck der Vermutung läßt das nicht zu.

Sie dient der Beweiserleichterung und der Verwaltungsvereinfachung (BSG SozR 3-3100 Nrn 2, 3). Für den Fall, daß der Beschädigte mindestens fünf Jahre Anspruch auf BSchA gehabt hat, soll § 48 Abs 1 Satz 2 die schwierige Prüfung überflüssig machen, ob Schädigungsfolgen tatsächlich die Hinterbliebenenversorgung gemindert haben. Deshalb kommt es einerseits nicht darauf an, daß dem Beschädigten BSchA gewährt worden ist oder daß er diese Leistung beantragt hat (SozR 3-3100 § 48 Nr 1). Andererseits wird das Verwaltungsverfahren aber nur dann abgekürzt und vereinfacht, wenn sich der BSchA-Anspruch ohne weitere Ermittlungen feststellen läßt. Dazu müssen die gesetzlichen Voraussetzungen dieses Anspruchs nach dem Inhalt der über den Beschädigten geführten Versorgungsakten auf den ersten Blick für jeden Kundigen klar erkennbar während wenigstens fünf Jahren bestanden haben und dieses Ergebnis muß sich der Verwaltung aufdrängen (BSG SozR 3100 § 48 Nrn 15, 16; SozR 3-3100 § 48 Nrn 1, 2, 3; zuletzt Urteile des Senats vom 20. Mai 1992 – 9a RV 24/91 – und vom 15. Juli 1992 – 9a RV 40/91 –). Das ist nur der Fall, wenn sich die Verwaltung mit dem hypothetischen und wirklichen Berufsweg des Beschädigten zu seinen Lebzeiten befaßt hat und zu einem – unter dem Gesichtspunkt BSchA – positiven Ergebnis gekommen ist. Ohne Bedeutung ist dabei, ob die Verwaltung aufgrund eines Antrages auf BSchA tätig geworden ist oder ob sie den Berufsweg aus anderen Gründen – etwa nach einem Antrag auf Ausgleichsrente – mit einem für den Beschädigten günstigen Ergebnis aufgeklärt hat (BSG SozR 3-3100 § 48 Nr 3).

An diesen Voraussetzungen fehlt es hier. Rs wirklicher Berufsweg und dessen hypothetischer Verlauf sind zu seinen Lebzeiten nicht aufgeklärt worden. Sein Einkommen aus Erwerbstätigkeit war der Verwaltung ebenso unbekannt wie die Höhe des Einkommens nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Altersruhegeld und betriebliche Altersversorgung). Diese haben sich erst im Verwaltungsverfahren über Witwenrente und Witwenbeihilfe im Zusammenhang mit der Erkenntnis ergeben, daß die Voraussetzungen für die Witwenbeihilfe nicht gegeben ist, die Vermutung somit nur eine Fiktion wäre. Im Zeitpunkt seines Todes hat sich mithin nach dem Inhalt der über R. geführten Versorgungsakten nicht ohne weitere Ermittlungen feststellen lassen, ob für mindestens fünf Jahre Anspruch auf BSchA bestanden hatte.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174713

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