Entscheidungsstichwort (Thema)

Kein Wegfall des Vorfahrtsrechts bei irreführendem Fahrverhalten des Vorfahrtsberechtigten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Vorfahrtsrecht (§ 8 Abs. 1 StVO) und Wartepflicht (§ 8 Abs. 2 StVO) entfallen grundsätzlich auch dann nicht, wenn der Vorfahrtsberechtigte durch missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten (hier: Blinken nach rechts und niedrige Geschwindigkeit) einen Vertrauenstatbestand dahingehend schafft, die Fahrwege beider Fahrzeuge werden sich nicht kreuzen.

2. Kommt es zu einer Kollision zweier Fahrzeuge an einer Kreuzung, weil der Vorfahrtsberechtigte nach rechts blinkt und mit niedriger Geschwindigkeit (hier: 30 km/h) fährt und der von rechts kommende Wartepflichtige in der irrtümlichen Annahme, der Vorfahrtsberechtigte werde nach rechts abbiegen, losfährt, obwohl beim Losfahren angesichts der Geschwindigkeit und des Abstands des Vorfahrtsberechtigten zumindest objektiv nicht mehr mit einem Abbiegen des Vorfahrtsberechtigten gerechnet werden durfte, so kommt eine Haftungsverteilung von 75:25 zu Lasten des Wartepflichtigen in Betracht.

 

Normenkette

StVO § 1 Abs. 2, § 8 Abs. 1-2; StVG § 17 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

LG Landshut (Urteil vom 04.10.2016; Aktenzeichen 42 O 458/16)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers vom 09.11.2016 wird das Endurteil des LG Landshut vom 04.10.2016 wie folgt abgeändert:

1. Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger einen Betrag von 3.322,52 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 19.05.2015, sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 442,80 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.08.2015 zu bezahlen.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben.

II. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg.

I. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass ein - im Rahmen der Haftungsverteilung nach § 17 I, II StVG mit dem Verursachungsbeitrag der Beklagten zu 1) gleich hoch zu gewichtender - Verursachungsbeitrag und Mitverschuldensanteil des Klägers darin liege, dass er auf der vorfahrtsberechtigten Straße mit "deutlich herabgesetzter Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h" gefahren sei und den rechten Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt habe (EU 7 = Bl. 61 d. A.). Hieraus wird gefolgert, dass die Beklagte zu 1) damit habe rechnen dürfen, dass der Kläger nicht geradeaus fahren werde, sowie ihren Einfahrvorgang habe beginnen dürfen (EU 8 = Bl. 62 d. A.).

Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat nach der durch den Senat wiederholten und ergänzten Beweisaufnahme durch Anhörung des Klägers, der Beklagten zu 1), Einvernahme der Zeugen S. und C. sowie Anhörung des Sachverständigen Dipl.Ing. (FH) R. teilweise Erfolg. Danach hat der Kläger gegen die Beklagten Anspruch auf Ersatz von 75% des ihm (in der Höhe unstreitig) entstandenen Schadens wie tenoriert (einschließlich Zinsen und vorgerichtlich entstandenen Anwaltsgebühren nebst Zinsen).

1. Der Kläger fuhr - unbestritten - auf der gegenüber der Beklagten zu 1) benutzten bevorrechtigten Straße. Das Vorfahrtsrecht (§ 8 I StVO) des Klägers und die Wartepflicht (§ 8 II StVO) der Beklagten zu 1) entfallen - grundsätzlich und im Streitfall - auch dann nicht, wenn der Kläger durch missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten einen Vertrauenstatbestand geschaffen hätte. Gegenteiliges bestätigen die vom Erstgericht zitierten obergerichtlichen Entscheidungen (OLG Karlsruhe DAR 2001, 128; OLG Hamm RuS 2004, 167; KG DAR 1990, 142) gerade nicht, vielmehr entspricht dies einhelliger Meinung, sowohl des Senats (Urt. v. 06.09.2013 - 10 U 2336/13 [BeckRS2013, 16306]) als auch anderer Oberlandesgerichte (OLG Dresden, Beschluss vom 24.04.2014 - 7 U 1501/13 [BeckRS 2014, 22004]; OLG Düsseldorf DAR 2016, 648; OLG Zweibrücken NJOZ 2008, 2487; OLG Naumburg, Urt. v. 19.02.2014 - 5 U 206/13 [BeckRS 2014, 11880]) und des Bundesgerichtshofs (NJW 1996, 60, für einen ähnlichen Vertrauenstatbestand). Insoweit ist die Annahme des Landgerichts unzutreffend, die Beklagte zu 1) habe mit dem Einfahrvorgang beginnen dürfen (EU 8 = Bl. 62 d. A.), was schon denkgesetzlich jegliches Fehlverhalten und jeden Verkehrsverstoß ausschlösse. Im Übrigen wäre dann eine Mithaftung der Beklagten, jedenfalls über die Betriebsgefahr hinaus, nicht zu rechtfertigen gewesen.

Umstritten ist allerdings, aufgrund welcher Umstände in dem Streitfall vergleichbaren Fällen ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird (Senat, a.a.O.; OLG Dresden, a.a.O.; OLG Hamm DAR ...

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