Leitsatz (amtlich)

1. Weichen die Ergebnisse zweier Sachverständigengutachten voneinander ab, kann das Gericht seine Überzeugung auf ein Gutachten stützen, ohne den anderen Sachverständigen ergänzend anzuhören oder ein Obergutachten einzuholen, wenn dem Sachverständigen, dem nicht gefolgt wird, die entscheidenden Informationen nicht vorgelegen haben und deshalb inhaltlich keine Widersprüche bestehen.

2. Wird ein in der letzten Reihe eines Reisebusses sitzender Passagier beim Überfahren eines Bahnübergangs mit überhöhter Geschwindigkeit vom Sitz hochgeschleudert und zieht er sich beim Aufprall auf den Sitz Verletzungen zu, haften Fahrer und Halter des Busses auf Schadensersatz. Das gilt auch dann, wenn der Fahrgast einen vorhandenen Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, der den Schadenseintritt verhindert hätte.

3. Der Fahrgast muss sich jedoch den Verstoß gegen die Gurtpflicht nach §§ 9 StVG, 254 BGB anspruchsmindernd anrechnen lassen. Eine Mithaftungsquote von 30 % kann angemessen sein, wenn dem genannten Verhalten des Passagiers die Betriebsgefahr des Busses gegenübersteht, die durch ein Fehlverhalten des Busfahrers (den Umständen nicht angepasste Geschwindigkeit) sowie die konstruktionsbedingt erfolgende starke Übertragung von Bodenunebenheiten auf Passagiere erhöht ist.

 

Normenkette

StVG §§ 7, 9, 11, 18; StVO §§ 3, 21a Abs. 1; StVZO § 35a Abs. 2, 4, 7; BGB § 254

 

Verfahrensgang

LG Arnsberg (Urteil vom 20.07.2011; Aktenzeichen 1 O 430/08)

 

Tenor

Auf die wechselseitigen Berufungen der Parteien wird - unter Zurückweisung dieser Rechtsmittel im Übrigen - das am 20.7.2011 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des LG Arnsberg teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 100.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 25.000 EUR seit dem 19.11.2008, aus weiteren 25.000 EUR seit dem 7.8.2009 sowie aus weiteren 50.000 EUR seit dem 27.4.2010 zu zahlen.

Die Beklagten werden ferner verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin Schadensersatz i.H.v. 7.705,60 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 5.120 EUR seit dem 19.11.2008 und aus weiteren 2.585,60 EUR seit dem 22.9.2011 zu zahlen.

Die Beklagten werden darüber hinaus verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin Schadensersatz i.H.v. monatlich 481,60 EUR, beginnend mit dem Monat Oktober 2008, endend mit dem Monat Juni 2021, monatlich im Voraus spätestens zum 5. eines jeden Monats, rückständige Beträge sofort, zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin 70 % aller weiteren materiellen Schäden aufgrund des Vorfalls vom 20.5.2007 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind, ferner alle weiteren immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 30 %.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin 39 % und die Beklagten 61 %.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 62 % und die Beklagten 38 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Den Parteien wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweils beizutreibenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.

 

Gründe

I. Wegen des erstinstanzlichen Vortrags der Parteien wird gem. § 540 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil des LG Arnsberg Bezug genommen.

Das LG hat der Klägerin 100.000 EUR als Schmerzensgeld und 4.480 EUR als Ersatz des bis Mai 2011 eingetretenen Haushaltsführungsschadens zuerkannt. Zum Ausgleich des weiteren Haushaltsführungsschadens ab Juni 2011 hat es die Beklagten zur Zahlung von monatlich 280 EUR verurteilt. Darüber hinaus hat das LG festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet seien, den materiellen und weiter gehenden immateriellen Schaden der Klägerin in einem um 30 % Eigenverantwortlichkeit gekürzten Umfang zu ersetzen.

Zur Begründung hat es ausgeführt, durch das fachradiologische Gutachten des Sachverständigen Dr. Y vom 22.12.2010 sowie die Aussagen des Arztes Dr. N und des Ehemannes der Klägerin, des Zeugen K, sei bewiesen, dass die Klägerin nach der Busfahrt mit dem Beklagten zu 1) eine frische Lendenwirbelkörperfraktur (LWK 1) aufgewiesen habe und dass diese Verletzung dadurch eingetreten sei, dass der Beklagte zu 1) mit dem Omnibus der Beklagten zu 2) in X2 die doppelten Bahngleise überquert habe, wobei die Klägerin aus ihrem Sitz hochgeschleudert und dann wieder auf den Sitz herabgefallen sei. Gemäß §§ 7, 18 StVG, 3 PflVG a.F. seien die Beklagten der Klägerin daher zum Schadensersatz verpflichtet. Dem Umfang nach sei diese Verpflichtung jedoch um 30 % Eigenverschulden der Klägerin gekürzt, weil diese zum Schadenseintritt wesentlich dadurch beigetragen habe, dass sie den Sitzgurt nicht angelegt gehabt habe....

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge