Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtskraftdurchbrechung vorausgegangener Entscheidungen zur Tariffähigkeit einer Gewerkschaft durch erhebliche Satzungsänderungen. Absenkung des Maßstabs für die Prüfung der Mächtigkeit einer Arbeitnehmervereinigung bei veränderter Rechtslage

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Rechtskraft einer Entscheidung über die Tariffähigkeit einer Gewerkschaft kann durch erhebliche Satzungsänderungen beseitigt werden. Hierbei ist nicht nur auf die zuletzt geltende Satzung abzustellen. Auch eine zwischenzeitlich erfolgte - weitergehende - Satzungsänderung kann den Schutz der Rechtskraft unwiederbringlich beseitigen.

2. Bei lange existierenden Gewerkschaften wird bei der Mächtigkeitskontrolle im Rahmen eines Verfahrens nach § 97 ArbGG nicht allein auf den Organisationsgrad, sondern auch auf das Tarifgeschehen in der Vergangenheit abgestellt.

3. Mit dem Tarifeinheitsgesetz und dem Mindestlohngesetz existieren Regelungen zum Erhalt einer funktionierenden Tarifautonomie, die eine Mächtigkeitskontrolle durch die Rechtsprechung anhand der Mitgliederzahl verfassungsrechtlich weniger erforderlich machen. Der Maßstab für diese Prüfung ist deshalb nicht unerheblich abzusenken.

 

Normenkette

GG Art. 9 Abs. 3; ArbGG § 97; ZPO § 325

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 19.06.2015; Aktenzeichen 1 BV 2/14)

 

Nachgehend

BAG (Beschluss vom 26.06.2018; Aktenzeichen 1 ABR 37/16)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 5 und 11 wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburg vom 19. Juni 2015 - 1 BV 2/14 - abgeändert:

Die Anträge werden zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

A.

Die Beteiligten streiten im Verfahren gemäß § 97 ArbGG um die Frage der Tariffähigkeit der "DHV - Die Berufsgewerkschaft e.V." (im Folgenden: DHV).

Antragstellerin ist die Gewerkschaft 1, weitere Antragstellerinnen sind die Gewerkschaft 2, die Gewerkschaft 3sowie die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Berlin(Bet. 1 - 4). Das Land N., vertreten durch das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales, hat sich mit Schriftsatz vom 13. Februar 2014 angeschlossen (Bet. zu 10).

Antragsgegnerin ist die DHV (Bet. zu 5), eine Arbeitnehmervereinigung, die Mitglied im Gewerkschaftsbund 1 ist, der ebenfalls im Verfahren beteiligt ist (Bet. zu 6).

Die Antragsgegnerin wurde erstmals 1893 gegründet, am 1. Oktober 1950 erfolgte ihre Neugründung unter dem Namen Deutscher Handlungsgehilfen Verband e.V., am 20. Dezember 1950 eingetragen in das Vereinsregister Hamburg.

Weitere Beteiligte sind der Spitzenverband 1 (Bet. zu 7), der Gewerkschaftsbund 2 (Bet. zu 8), die Bundesrepublik Deutschland vertreten durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Bet. zu 9) und der Arbeitgeberverband 1 (Bet. zu 11).

Die Frage der Tariffähigkeit der DHV - wie auch die ihrer Tarifzuständigkeit - war bereits mehrfach Gegenstand arbeitsgerichtlicher Verfahren. Mit Beschluss vom 10. Dezember 1956 (2 BV 366/56 - Anl. A 5 Bl. 102 d.A.) stellte das Arbeitsgericht Hamburg ihre Tariffähigkeit auf der Grundlage der Satzungen vom 1. Juli 1952 bzw. 1. Juli 1954 fest. Zuletzt wies das Arbeitsgericht Hamburg mit Beschluss vom 9. November 1995 (1 BV 8/92 - Bl. 107 d.A.) einen Antrag der Gewerkschaft 1 auf Feststellung der fehlenden Tariffähigkeit der DHV als unzulässig zurück wegen weiterhin entgegenstehender Rechtskraft des Beschlusses aus dem Jahre 1956. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das LAG Hamburg mit Beschluss vom 18. Februar 1997 (2 TaBV 9/95 - Bl. 156 d.A.) zurück.

Nach der Satzung der Antragsgegnerin aus dem Jahr 1956 verstand sich diese als "Zusammenschluss der Deutschen Kaufmannsgehilfen auf christlich nationaler Grundlage zur Hebung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage". 1978 wurde die Satzung dahin geändert, dass sie eine "Gewerkschaft der Angestellten im Handel, in der Industrie und im privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich" sei. Ab 2002 hieß es in der Satzung der DHV u.a.:

"Der DHV ist eine Gewerkschaft der Arbeitnehmer in kaufmännischen und verwaltenden Berufen, die in der privaten Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst tätig sind."

Die DHV ist mit 9 Landesverbänden bundesweit tätig. Eine Vielzahl von Mandatsträgern (Aufsichtsräte, Betriebs- und Personalräte) sind bei ihr organisiert. Sie gewährt ihren Mitgliedern Rechtsschutz, hat seit dem Jahre 1950 nach ihren Angaben ca. 24.000 Tarifverträge abgeschlossen, Warnstreiks geführt und Tarifverhandlungen abgebrochen.

Auf einem außerordentlichen Bundesgewerkschaftstag vom 16./17. November 2012 beschloss die Antragsgegnerin nach weiteren zwischenzeitlichen Satzungsänderungen ihren Organisationsbereich wie folgt (Anl. A 10, Bl. 188 d.A.):

"1. Die DHV ist tarifzuständig für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den nachfolgenden Bereichen und schließt für diese Tarifverträge ab:

- Banken, Sparkassen, Bausparkassen

- Einzelhandel

- Groß- und Außenhandel

- Handel mit Kraftfahrzeugen

- Gesetzliche Sozialversicherung

- Lagerei und Warenlogistik

- Versicherungswirts...

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