Rz. 60

§ 2229 BGB regelt die Testierfähigkeit. Dies ist die Fähigkeit, ein Testament zu errichten, zu ändern oder aufzuheben, die beim Errichtungsakt bis zu dessen Abschluss (Unterschriftsleistung) vorhanden sein muss.[69] Der im Erbscheinverfahren häufig erhobene "Standardeinwand", dass der Erblasser bei der Errichtung der letztwilligen Verfügung wegen Medikamenteneinnahme, Alters oder Demenz nicht testierfähig gewesen sei, ist jedenfalls dann prozessrechtlich irrelevant, wenn diese Behauptung nicht durch objektivierbare Tatsachen (Wahnvorstellungen, Verhaltensauffälligkeiten usw.) substantiiert wird. Bloße Vermutungen über diese Aspekte reichen prozessrechtlich jedenfalls nicht aus.[70] Die Testier- und Erbfähigkeit hängt vom Lebensalter und der Frage der Einsichtsfähigkeit über die Bedeutung der abgegebenen Willenserklärung ab. Hierzu dient folgende Übersicht:

 
Alter Testierfähigkeit Erbvertragsfähigkeit
Vor Vollendung des 16. Lebensjahres Testierfähigkeit besteht nicht (§ 2229 Abs. 1 BGB) Erbvertragsfähigkeit besteht nicht (§§ 2275 Abs. 1, 104, 106 BGB)
Nach Vollendung des 16. aber vor Vollendung des 18. Lebensjahres Testierfähigkeit ist nur nach Maßgabe der §§ 2233 Abs. 1, 2247 Abs. 4 BGB gegeben; § 2229 Abs. 1 BGB Erbvertragsfähigkeit ist bei Ehegatten und Verlobten mit Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter gegeben (§ 2275 Abs. 2, 3 BGB).
Nach Vollendung des 18. Lebensjahres Testierfähigkeit gegeben (§ 2233 BGB) Erbvertragsfähigkeit ist gegeben (§ 2275 Abs. 1 BGB)
Bei angeordneter Betreuung (§§ 1814 ff. BGB) Testierfähigkeit ist grundsätzlich gegeben, es sei denn § 2229 Abs. 4 BGB liegt vor. Erbvertragsfähigkeit ist grundsätzlich gegeben, es sei denn, § 2229 Abs. 4 BGB liegt vor.

Häufig wird verkannt, dass auch ein unter Betreuung Stehender allein wegen der Tatsache der Betreuungsbedürftigkeit seine Testierfähigkeit nicht verliert.[71]

 

Rz. 61

Das OLG Hamburg hat einen praxistauglichen "Prüfkatalog" aufgestellt, anhand dessen die Frage der Testierunfähigkeit gerichtlich abgeprüft werden kann. Insbesondere beim Einwand der Demenz oder sonstiger geistiger Schwächen zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung kann folgendes Prüfschema angewandt werden:

Feststellung auffälliger Verhaltensweisen des Erblassers zur Ermittlung von Anknüpfungstatsachen durch Zeugenvernehmung oder schriftliche Äußerungen Dritter, was vom Nachlassgericht selbst im Wege des Freibeweises von Amts wegen zu ermitteln ist
Zuleitung der zur Überzeugung des Gerichts feststehenden Anknüpfungstatsachen an den Sachverständigen
Erhebung der medizinischen Befunde durch den Gutachter
Feststellung der Auswirkungen des Medizinbefundes auf die Verhaltensauffälligkeiten beim Erblasser durch den Gutachter im konkreten Fall, vor allem die Auswirkungen auf kognitive Funktionen, Persönlichkeit und Wertegefühlt des Verstorbenen
Erstreckung dieser Beeinträchtigungen auf den Sachverhalt zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung durch Ermittlung der Fähigkeit des Erblassers, Sachverhalte aufzufassen, zu verstehen, Informationen rational und emotional zu verarbeiten und den Sachverhalt eigenständig zu bewerten
Feststellung der Fähigkeit des Verstorbenen, auf dieser Grundlage einen eigenen Willen zu bilden und zu bestimmen, zu äußern und danach zu handeln
Ermittlungen der Fähigkeit des Erblassers, ein Urteil über alternative Sachverhalte zu bilden und frei bei der Abfassung des Testaments entscheiden zu können
Feststellung eines brauchbaren Grads von Gewissheit für die Testierunfähigkeit durch den Gutachter
Prüfung des Gutachtens durch das Gericht auf Nachvollziehbarkeit und Plausibilität.[72]
[69] Grüneberg/Weidlich, § 2229 Rn 1; BGHZ 30, 294.
[70] OLG Düsseldorf BeckRS 2012, 12836, mit Anm. Roth, NJW-Spezial 2012, 424; OLG München, BeckRS 2014, 20760, mit Anm. Roth, NJW-Spezial 2014, 712; OLG Düsseldorf, BeckRS 2013, 21113, mit Anm. Roth, NJW-Spezial 2014, 71.
[71] Grüneberg/Weidlich, § 2229 Rn 5; Roth, Erben und Vererben bei rechtlicher Betreuung, S. 33; OLG Celle, Urt. v. 7.1.2021 – 6 U 22/20.
[72] OLG Hamburg BeckRS 2018, 24285, mit Anm. Roth, NJW-Spezial 2018, 744.

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