Gefährdungsbeurteilungen können dann nicht ohne Vor-Ort-Begehungen erstellt werden, wenn

  • die Arbeitstätigkeiten und die damit verbundenen Risiken nicht bekannt bzw. nicht klar einschätzbar sind,
  • die standortbezogenen Arbeitsbedingungen (wie Raumgröße, Beleuchtung, Raumklima, Verkehrswege usw.) nicht bekannt bzw. nicht soweit standardisiert und vor Ort einschätzbar sind, dass durch Abfrage geklärt werden kann, ob Probleme damit bestehen,
  • der Sachverstand der Beschäftigten vor Ort nicht ausreichend ist, um an einer Gefährdungsbeurteilung, die nicht in Präsenz durchgeführt wird, mitzuwirken.

Daran wird erkennbar, dass der Verzicht auf Präsenzbegehungen v. a. in Unternehmen infrage kommt, die allgemein gut strukturiert sind, also z. B. Standorte in regelgerechten Gebäuden betreiben und gut ausgebildete Mitarbeiter beschäftigen sowie einen stabilen Arbeitsschutzstandard haben.

Auch wenn eine aus der Distanz durchgeführte Gefährdungsbeurteilung das Ergebnis erbringt, dass Mängel bestehen, die nicht leicht zu beheben sind bzw. für die Maßnahmen erst noch zu entwickeln sind, ist oft ein Vor-Ort-Beratungstermin nötig. Dieser kann dann geplant und entsprechend vorbereitet werden, damit z. B. die erforderlichen Teilnehmer dabei sein können, die nötigen Informationen oder Produktmuster beschafft oder Tests durchgeführt wurden. Das Thema kann dann effizient weiter bearbeitet oder abschließend geklärt werden – besser, als das bei einer routinemäßig angesetzten Turnus-Begehung der Fall wäre.

 
Praxis-Tipp

Begehungen gezielt durchführen

Wenn der Reiseaufwand hoch ist oder die Ressourcen dafür begrenzt sind, wie es häufig gerade bei Betriebsärzten der Fall ist, ist es wichtig, genau zu klären, was mit einer Vor-Ort-Begehung erzielt werden soll.

Manchmal verknüpft sich mit einer Begehung durch den Betriebsarzt die Vorstellung, dass dieser dabei durch seine spezifischen arbeitsmedizinischen Kenntnisse Sachverhalte wahrnimmt, die anders gar nicht erkannt und wahrgenommen werden können. Das ist jedoch in einer modernen, stark strukturierten und oft auch standardisierten Arbeitsumgebung i. d. R. nicht der Fall. Branchen- bzw. unternehmensspezifisch ist hinlänglich bekannt, welche arbeitsmedizinisch relevanten Risiken es zu berücksichtigen gilt, z. B. über die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV), die dazugehörigen Arbeitsmedizinischen Regeln und eine Vielzahl von tätigkeitsspezifischen BG-Vorgaben.

Eine Begehung ist für einen Betriebsarzt aber z. B. dann sinnvoll, wenn

  • es einen konkreten Beratungsanlass gibt, z. B. bezogen auf einen einzelnen Beschäftigten oder auf bestimmte, aufgetretene Beschwerden,
  • dieser sich im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung gezielt ein Bild von Arbeitsplätzen machen möchte,
  • es um Planung und Einrichtung von neuartigen Arbeitsplätzen geht.

Begehungen, die routinemäßig mit dem formalistischen Hinweis auf die Aufgaben des Betriebsarztes nach ASiG durchgeführt werden, bringen den Arbeitsschutzstand eines Unternehmens wenig weiter. Arbeitsbedingungen werden nicht dadurch verbessert, dass ein Betriebsarzt durch die Räume geht.

 
Achtung

"Da guckt doch sonst keiner hin!"

Mit dieser Begründung wird viel Wert darauf gelegt, dass in regelmäßigen Abständen Fachexperten (extern oder intern) Arbeitsplätze in Augenschein nehmen.

Expertenbegehungen sind sicher hilfreich, aber an sich keine tragfähige Grundlage für eine gute Arbeitsschutzkultur im Unternehmen. Ausschlaggebend dafür ist primär die Motivation eines Unternehmens, seiner Führungskräfte und Beschäftigten, für sichere und gesunde Arbeitsplätze zu sorgen – weniger die Aufmerksamkeit von Fachexperten. In aller Regel sind die vor Ort Beschäftigten sehr gut in der Lage, relevante Arbeitsschutzmängel zu erkennen. Das muss ja auch so sein, denn es würde zu hohen Risiken führen, wenn Mängel jeweils erst dann erkannt und behoben würden, wenn sie im Rahmen einer Arbeitsschutzbegehung entdeckt werden.

Die Aufmerksamkeit, die nötig ist, damit Mängel wahrgenommen und behoben werden, die im Betriebsalltag manchmal übersehen werden, lässt sich durchaus auch im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungsprozessen fördern, die nicht oder nicht nur in Präsenz stattfinden.

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