Führen unter Partnern: Wer ist in Steuerkanzleien der Chef?

Philip Reimann ist Partner in der Hamburger Kanzlei Dierkes Partner und beschäftigt sich dort intensiv mit dem Thema Führung. Warum er sich ein Umdenken in der Branche wünscht, erzählt er im Interview.

An den beiden Standorten von Dierkes und Partner in Hamburg gibt es neun Teamleiter und fünfzehn Partner. Wer übernimmt die Führungsverantwortung für die fast 150 Beschäftigten und die gesamte Kanzlei?

Philip Reimann: Genau diese Frage ist eine der großen Herausforderungen für Kanzleien – gerade im mittelständischen Bereich – und auch für uns. Es herrscht immer noch das freiberufliche Selbstverständnis vor: Steuerberater, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer sind gleichzeitig Unternehmer und können, wollen und müssen deshalb auch führen. Ich frage mich manchmal, ob der Branche bewusst ist, dass die Realität natürlich eine andere ist.

Wir wollen herausfinden, wie wir Führung bei uns strukturieren können.

Wenn zu uns in die Kanzlei jemand käme und sagt: „Ich arbeite in einem mittelständischen Unternehmen mit 150 Beschäftigten und 15 Geschäftsführern“, dann weiß ich nicht, ob wir uns das Lachen verkneifen könnten. Zumindest würden wir aber sehr genau nachfragen, wie das denn funktioniert und warum das so sein muss. Die Geschichte ist natürlich rein hypothetisch, weil das nicht passiert und weil es auch nicht funktionieren würde.

Trotzdem ist die Realität in der Kanzlei doch gerade genau diese?

Momentan schon. Aber wir sind uns zumindest darüber im Klaren, dass dieses Modell so nicht funktionieren kann. Wir arbeiten gerade daran, eine Lösung zu finden. Wir wollen herausfinden, wie wir Führung bei uns strukturieren können.

Wie gehen die Partner aktuell an Entscheidungen ran, zum Beispiel beim Beschluss einer Digitalstrategie. Muss die von allen 15 Partnern einstimmig beschlossen werden?

Es gibt Spielregeln, die stehen in unserem Gesellschaftsvertrag. Aber oft ist es bei uns so, dass Dinge einstimmig beschlossen werden und wir diese Regeln gar nicht brauchen. In jedem Fall ist uns wichtig, dass – unabhängig von der Führungsstruktur – die Entscheidung von allen Partnern und Partnerinnen mitgetragen werden.

Das klingt doch nach einem gut funktionierenden Konzept.

Das hat in der Vergangenheit funktioniert und es war nie so, dass wir uns an einem Punkt gegenseitig blockiert hätten. Was wir jetzt aber merken, ist, dass zum einen die Geschwindigkeit in der ganzen Arbeitswelt zunimmt, das Wachstum unserer Kanzlei aber dazu führt, dass Entscheidungen immer länger dauern. Diese gegenläufigen Entwicklungen gehen auf Dauer nicht gut, deshalb wollen wir das Thema Führung angehen.

Welche Fragen beschäftigen die Partner dabei?

Das sind Definitionsfragen: Was heißt das, bestimmte Zuständigkeiten auf einzelne Personen oder eine kleinere Gruppe auszulagern? Welche Kompetenzen werden übertragen? Welche Entscheidungen dürfen ohne Rücksprache getroffen werden? Wie definieren wir wesentliche Entscheidungen oder den Begriff „Wesentlich“, damit alle das Vertrauen haben, dass sie noch gefragt werden, wenn es eben um wesentliche Entscheidungen geht.

Eine schwierige Aufgabe.

Und noch dazu eine, die wirklich viele Kanzleien angehen wollen, müssen oder angehen sollten. Das erfahren wir von Kanzleien, mit denen wir uns intensiv austauschen.

Es geht uns nicht darum, dass es dann den einen gibt, der alles entscheidet.


Es ist überall das gleiche Thema und es sind die gleichen Herausforderungen: Das Vertrauen der Partnerinnen und Partner zu gewinnen und sie zu überzeugen, dass ein kleiner Kreis die richtigen Entscheidungen trifft und eine strategische Richtung vorgibt.

Wie geht Dierkes und Partner diese Herausforderung an?

Wir haben aktuell keinen geschäftsführenden Partner, diskutieren aber darüber. Wir brauchen jemanden, der sich verstärkt um all die Themen kümmert, die die anderen bei ihrer Arbeit mit den Mandanten unterstützen sollen: IT, Personal, Marketing, Controlling. Es geht uns nicht darum, dass es dann den einen gibt, der alles entscheidet. Wir wollen keine weitere Hierarchieebene schaffen. Das soll eine Person machen, der das Spaß macht, und die die anderen unterstützen möchte. 

Andere Unternehmen überdenken gerade Führungsmodelle, in denen eine Person für andere denkt und lenkt. Könnte man das Modell mit 15 Partnern, die Führung übernehmen, nicht auch als Chance wahrnehmen - als eine innovative Führungsmethode?

Ja, könnte man. Aber die Erfahrung lehrt einen, dass man sich etwas vormacht.

Warum?

Weil es einfach schlichtweg nicht funktioniert. Die Geschwindigkeit ist das Problem. Je schneller man eine Entscheidung finden muss, desto schwieriger wird es in einer solchen Kanzlei. Wenn Leute bei allem mitreden wollen, brauchen sie auch die Möglichkeit, alles mitzubekommen und die Möglichkeit, sich immer äußern zu können – beides kostet viel Zeit und bindet Ressourcen.

Zunehmend wichtig werden Sensibilität und Empathie, einfach das Verständnis für Menschen - Digitalisierung hin oder her.


Andererseits fühlen sich gar nicht alle dazu berufen zu führen und es liegt schlichtweg auch nicht allen Freiberuflern. Menschen werden aus ganz anderen Gründen Partner. Nicht immer liegt der Grund darin, dass sie Personal führen können oder das Unternehmen als Ganzes strategisch voranbringen wollen. Manche werden Partner, weil sie hervorragende Experten in ihrem Bereich sind, manche, weil sie hervorragende Akquisiteure sind. Die entwickeln sich selbst und ihr Team weiter, aber nicht das ganze Unternehmen. Aber nochmal: Es ist ganz selten, dass Freiberufler sich das eingestehen. Führung galt lange Zeit als etwas, was man einfach konnte.

Das Verständnis von Führung verändert sich gerade in vielen Branchen und Unternehmen. Was macht Führung für dich aus?

Zunehmend wichtig werden Sensibilität und Empathie, einfach das Verständnis für Menschen - Digitalisierung hin oder her. Wenn man mit diesen Fähigkeiten Menschen weiterentwickeln kann, ihre Stärken fördert, ist das optimal. Es geht um Leadership. Dazu kommt das Management, also das Kümmern um die Organisation, um die Strukturen. Führung sollte im Blick haben, was sich draußen am Markt tut und wie man darauf reagieren kann. Eine Digitalstrategie im Sinne der Geschäftsfeldentwicklung würde für mich auch zu den Aufgaben eines Geschäftsführers gehören.

Wieso gibt es häufig keine Geschäftsführer in Kanzleien, wenn es so viele Themen gibt, die angegangen werden sollten?

Das sind sehr viele Aufgaben und viele Kanzleien stellen sich zudem die Frage, wie viele Menschen es dafür braucht. Auch vor dem Hintergrund, dass keiner der Partner das Vollzeit machen will. Partner wollen oft nicht in Vollzeit führen. Die haben häufig Angst davor, dass sie den Kontakt zu den Mandanten verlieren. Denn was passiert, wenn die anderen Partner die Person nicht mehr in der Führungsrolle sehen wollen? Darf die dann wieder zurück in ihre alte Rolle als Partner? Bekommt sie dann wieder Mandate zugewiesen?

Es gibt die absurde Situation, dass eigentlich alle das bekommen könnten, was sie wollen, es aber nicht verteilt wird, weil niemand darüber spricht.


Es gibt Kanzleien, die einen berufsfremden Geschäftsführer eingestellt haben. Ich weiß von einer Kanzlei, bei der das ganz gut funktioniert hat, weil das jemand war, der sehr gut mit den Partnern umgegangen ist. Dem war klar, wie die Freiberufler ticken, und dass man da mit Fingerspitzengefühl vorgehen muss. Wenn so eine Person keine Akzeptanz von den Partnern erhält, wird das allerdings nicht funktionieren.

Würdest du dir wünschen, dass diese Probleme in der Branche mehr Beachtung finden?

Ja. Es mangelt an einer totalen Transparenz und Offenheit. Da gibt es zum einen Partner, die gar nicht führen wollen und andere, die gerne Vollzeit führen würden, es sich aber nicht trauen aus den genannten Gründen. Es gibt also die absurde Situation, dass eigentlich alle das bekommen könnten, was sie wollen, es aber nicht verteilt wird, weil niemand darüber spricht. Das wollen wir hier in der Kanzlei verhindern.

Wie bekommt die Kanzlei so eine offene Kommunikation hin?

Wir haben uns bei diesem Prozess in den letzten Jahren immer Hilfe von außen geholt. Auch wenn wir uns mit unserer Strategie auseinandersetzen, machen wir das moderiert. Das bringt schon mal ganz viel für die Atmosphäre. Kompetente Begleitung ist sehr wichtig.

Wie viel Mitspracherecht haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Suche nach einer neuen Verteilung von Führung?

Wir versuchen, die Mitarbeiter abzuholen. Wir starten Befragungen und unsere Teamleiter sind offen für Vorschläge. Wir wollen offene Kommunikation vorleben und unsere Mitarbeiter dazu ermutigen. An der Führung in kleinen Teams durch die Teamleiter wollen wir auch gar nichts ändern. Die Teamleiter wiederum können davon profitieren, wenn sie wissen, welche Strategie die Kanzlei verfolgt und in welche Richtung sie sich entwickeln soll. Damit wird das Gefühl verknüpft, dass es Menschen in der Organisation gibt, die wissen, wo es langgeht. Erstaunlicherweise gibt es dann auch Leute, die sagen, dass sie den eingeschlagenen Weg nicht gut finden, die aber trotzdem bleiben. Denn sie finden es besser, dass es einen definierten Weg gibt, auch wenn sie diesen selbst vielleicht nicht gewählt hätte, als gar keinen.

Zur Person

Dr. Philip Reimann ist seit 2002 als Rechtsanwalt und seit 2006 als Steuerberater tätig. Er ist Partner in der Kanzlei Dierkes Partner in Hamburg.

Sarah Beha
Schlagworte zum Thema:  Leadership