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BSG Beschluss vom 09.12.2004 - B 6 KA 70/04 B

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Kassenärztliche Vereinigung. Disziplinarverfahren gegen Vertragsarzt ist ein Verwaltungsverfahren. Gericht. Auswahl und Anwendung von Fristenregelungen. fortdauernder Verstoß gegen Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise rechtfertigt Disziplinarmaßnahmen

Orientierungssatz

1. Das in den Satzungen der Kassenärztlichen Vereinigungen näher geregelte Disziplinarverfahren ist ein Verwaltungsverfahren, auf das die Vorschriften des SGB 10 Anwendung finden.

2. Die Gerichte sind generell nicht befugt, aus der Vielzahl gesetzlicher Fristregelungen in den unterschiedlichen Verfahrensordnungen einzelne Vorschriften auszuwählen und ohne gesetzliche Anordnung auf andere Verfahren anzuwenden. Das wäre mit der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und der Verlässlichkeit des Verwaltungshandelns nicht vereinbar. Ausnahmen davon kommen nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht, wenn in einer bestimmten Konstellation Fristen aus rechtsstaatlichen Erwägungen unverzichtbar sind und eine ausdrückliche Regelung fehlt.

3. Der fortdauernde Verstoß eines Arztes gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise rechtfertigt die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen und kann ggf sogar Grundlage für die Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit sein (vgl BSG vom 15.4.1986 - 6 RKa 6/85 = BSGE 60, 76, 78 = SozR 2200 § 368a Nr 15).

Normenkette

SGB 10 § 1 Abs. 1; SGB 5 § 81 Abs. 5; SGB 5 § 95 Abs. 6; StPO § 275 Abs. 1 S. 2

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 11.08.2004; Aktenzeichen L 7 KA 56/02)

SG Berlin (Urteil vom 10.04.2002; Aktenzeichen S 71 KA 133/00)

Tatbestand

Der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Kläger hat sich im Klage- und Berufungsverfahren gegen einen Disziplinarbescheid der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung gewandt, durch den ihm eine Geldbuße von 5.000,- DM auferlegt worden ist. Grundlage der Entscheidung des Disziplinarausschusses ist die Feststellung, dass der Kläger in der Zeit vom 2. Quartal 1995 bis zum 1. Quartal 1999 in insgesamt 14 Quartalen gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen und damit seine vertragsärztlichen Pflichten verletzt habe. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben.

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil macht der Kläger geltend, im Rechtsstreit seien Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die als Zulassungsgrund allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt nicht vor.

Der Kläger hält zunächst für grundsätzlich bedeutsam, ob für die schriftliche Absetzung und Zustellung von Bescheiden in vertragsärztlichen Disziplinarangelegenheiten eine Frist von fünf Wochen nach der Beschlussfassung gilt. Eine solche Fristregelung enthält § 275 Abs 1 Satz 2 Strafprozessordnung (StPO) für verkündete strafgerichtliche Urteile; die Norm lässt eine längere Frist in Abhängigkeit zur Dauer der Hauptverhandlung (aaO Satz 3) und generell bei unabwendbaren Umständen im Einzelfall (aaO Satz 4) zu. Diese Frage ist entscheidungserheblich, weil der Bescheid des Disziplinarausschusses der Beklagten aus der Sitzung vom 27. Oktober 1999 erst am 20. März 2000 ausgefertigt und dem Kläger ausweislich des Datums der Klageerhebung (24. März 2000) zwischen dem 21. und dem 23. März 2000 zugestellt worden ist. Die Frage ist jedoch nicht klärungsbedürftig, weil sich ihre Antwort ohne Weiteres aus den maßgeblichen Rechtsvorschriften und der dazu ergangenen Rechtsprechung ergibt. Dieser Umstand steht der Zulassung der Revision entgegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen sind nicht gerechtfertigt (zB BVerfG ≪Kammer≫, SozR 3-1500 § 160a Nr 7 S 14).

Nach § 81 Abs 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) müssen die Satzungen der Kassenärztlichen Vereinigungen die Voraussetzung und das Verfahren zur Verhängung von Maßnahmen gegen Mitglieder bestimmen, die ihre vertragsärztlichen Pflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllen. Das auf der Grundlage dieser gesetzlichen Ermächtigung in den Satzungen der Kassenärztlichen Vereinigungen näher geregelte Disziplinarverfahren ist ein Verwaltungsverfahren, auf das die Vorschriften des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) Anwendung finden, wie das Berufungsgericht im Einzelnen näher begründet hat. Weder das SGB X noch die Disziplinarordnung der Beklagten enthalten eine Bestimmung darüber, innerhalb welcher Frist die vom Disziplinarausschuss nach mündlicher Verhandlung getroffene Entscheidung schriftlich abgesetzt und dem Betroffenen zugestellt sein muss. Für andere Verwaltungsverfahren aus dem vertragsärztlichen Bereich, nämlich diejenigen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V, hat der Senat im Anschluss an die Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Absetzungsfrist verkündeter Urteile (SozR 3-1500 § 551 Nr 4) entschieden, dass Bescheide des Beschwerdeausschusses dann als "nicht mit Gründen versehen" iS des § 35 Abs 1 SGB X zu behandeln sind, wenn sie nicht innerhalb von fünf Monaten nach Beschlussfassung zur Zustellung gegeben werden (BSGE 76, 300 = SozR 3-1300 § 35 Nr 7; SozR 3-1300 § 35 Nr 8). Wenn diese Frist von fünf Monaten auch auf Entscheidungen der Disziplinarausschüsse anzuwenden sein sollte, weil diesen Gremien hinsichtlich der Entscheidung für eine bestimmte Sanktion Ermessen zukommt, wäre sie hier gewahrt. Zwischen der mündlichen Verhandlung und der anschließenden Entscheidung im Disziplinarausschuss am 27. Oktober 1999 und der Zustellung spätestens am Tag der Klageerhebung (23. März 2000) sind keine fünf Monate vergangen. Der Umstand, dass § 275 Abs 1 Satz 2 StPO für Strafurteile eine kürzere Frist vorgibt, ist keine hinreichende Basis für die Annahme, diese Frist müsse entsprechend auch im vertragsärztlichen Disziplinarverfahren gelten.

Unabhängig davon, dass die Frist des § 275 Abs 1 Satz 2 StPO auf die Besonderheiten des Strafverfahrens zugeschnitten ist und zudem Ausnahmen zulässt, sind die Gerichte generell nicht befugt, aus der Vielzahl gesetzlicher Fristregelungen in den unterschiedlichen Verfahrensordnungen einzelne Vorschriften auszuwählen und ohne gesetzliche Anordnung auf andere Verfahren anzuwenden. Das wäre mit der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und der Verlässlichkeit des Verwaltungshandelns nicht vereinbar. Ausnahmen davon kommen nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht, wenn in einer bestimmten Konstellation Fristen aus rechtsstaatlichen Erwägungen unverzichtbar sind und eine ausdrückliche Regelung fehlt. Wenn die oben näher dargestellte Rechtsprechung zur Fünf-Monats-Frist auch auf Disziplinarbescheide anzuwenden sein sollte, wäre den rechtsstaatlichen Erfordernissen und dem Schutz des betroffenen Arztes vor einer überlangen Verfahrensdauer jedenfalls hinreichend Rechnung getragen.

Ebenso wenig klärungsbedürftig ist die vom Kläger weiter aufgeworfene Frage, ob Vergleiche mit den Gremien der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung unter dem Gesichtspunkt einer vertragsärztlichen Pflichtverletzung die gleiche Bedeutung wie Entscheidungen dieser Gremien oder gerichtliche Urteile haben können. In der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist seit Jahrzehnten geklärt, dass der fortdauernde Verstoß eines Arztes gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen rechtfertigt und ggf sogar Grundlage für die Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit sein kann (vgl nur BSGE 60, 76, 78 = SozR 2200 § 368a Nr 15). In § 106 Abs 2 Nr 1 SGB V in der bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung ist als Regelprüfmethode im Rahmen der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung die arztbezogene Prüfung ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten, also die sog statistische Vergleichsprüfung, vorgeschrieben. Es unterliegt deshalb keinem Zweifel, dass eine auf dieser Grundlage ermittelte Unwirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise über einen längeren Zeitraum hinweg grundsätzlich geeignet ist, den Vorwurf einer Verletzung der vertragsärztlichen Pflichten zu begründen.

Die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage fehlt auch insoweit, als der Kläger die Frage aufwirft, ob Kürzungsmaßnahmen, die Gegenstand eines gerichtlichen Vergleichs oder eines Vergleichs im Verwaltungsverfahren gewesen sind, überhaupt Grundlage des Vorwurfs fortdauernder Verstöße gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot sein können. Die Frage ist ohne Weiteres zu bejahen, weil allein die Tatsache, dass über Honorarkürzungen ein Vergleich geschlossen worden ist, nichts daran ändert, dass der betroffene Arzt im jeweiligen Quartal unwirtschaftlich gehandelt hat. Welche Auswirkungen im Einzelfall dem Umstand zukommt, dass die abschließende Festlegung der Höhe von Honorarkürzungen im Wege eines Vergleichs erfolgt ist, entzieht sich einer generellen Klärung und damit einer über den Einzelfall hinausgehenden Beurteilung im Revisionsverfahren. Die insoweit in Betracht kommenden Fallkonstellationen sind sehr unterschiedlich. Denkbar ist, dass ein Vergleich geschlossen wird, um Unsicherheiten darüber Rechnung zu tragen, ob angesichts bestimmter Praxisbesonderheiten überhaupt eine Unwirtschaftlichkeit der ärztlichen Behandlungsweise feststellbar ist. Ebenso sind Konstellationen denkbar, in denen im Vergleichswege lediglich geringfügige Korrekturen der Kürzungshöhe vorgenommen werden oder die Grenze der Überschreitung der Durchschnittswerte, auf die die Honorarforderung des betroffenen Arztes zurückgeführt werden soll, für mehrere Quartale hinweg einheitlich bestimmt wird. In der zuletzt geschilderten Situation liegt auf der Hand, dass allein daraus, dass die Bestandskraft der Honorarkürzungen im Wege eines Vergleichs herbeigeführt worden ist, nicht der Schluss gezogen werden kann, dass eine Unwirtschaftlichkeit hinsichtlich der Behandlungsweise nicht verbindlich festgestellt worden sei.

Auch den vom Kläger im Zusammenhang mit dem Schuldvorwurf aufgeworfenen Fragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Dass eine Disziplinarmaßnahme nur verhängt werden darf, wenn der Vertragsarzt schuldhaft gehandelt hat, steht fest (BSG SozR 3-2500 § 81 Nr 7 S 37). Ebenso ist nicht zweifelhaft, dass nicht nur vorsätzliches, sondern auch fahrlässiges Verhalten schuldhaft ist (vgl nur Hesral in: Disziplinarrecht und Zulassungsentziehung ≪Hrsg Ehlers≫, 2001, RdNr 181 ff). Im Übrigen entzieht sich einer generellen Festlegung, welche Anforderungen an den Verschuldensvorwurf bei fortdauernden Verstößen gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot zu stellen sind. Die Vorstellung jedenfalls, der Kläger habe nicht wissen können, dass er pflichtwidrig unwirtschaftlich behandelt, nachdem ihm für 14 Quartale Kürzungsbescheide des Prüfungsausschusses zugegangen waren, erscheint fern liegend.

Soweit der Kläger schließlich für grundsätzlich bedeutsam hält, "nach welchen Kriterien verschiedene Disziplinarmaßnahmen verhängt werden könnten", ist die Beschwerde unzulässig. Sie entspricht nicht dem aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Gebot, im Rahmen der Begründung einer auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützten Nichtzulassungsbeschwerde eine Rechtsfrage in eigener Formulierung zu beschreiben, über die die Entscheidung des Revisionsgerichts herbeigeführt werden soll. Der Kläger legt nicht dar, welche Rechtsfrage insoweit aufgeworfen werden soll, die angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Senats zum Auswahlermessen der Disziplinarausschüsse hinsichtlich der in § 81 Abs 5 SGB V vorgegebenen Sanktionsmittel geklärt werden müsste.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160 Abs 4 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung.

Fundstellen

  • Haufe-Index 1755789
  • NZS 2005, 557

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