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BVerfG Urteil vom 01.12.1982 - 1 BvR 607/82

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Verzögerung bei der Briefbeförderung. rechtliches Gehör

 

Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) wird verletzt, wenn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung versagt wird, der Bürger dürfe sich nicht allein auf den amtlichen Aushang über regelmäßige Postlaufzeiten verlassen.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 233 Fassung:1976-12-03

 

Verfahrensgang

LG Nürnberg-Fürth (Beschluss vom 06.05.1982; Aktenzeichen 5 S 1584/82)

 

Tenor

Die Beschlüsse des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26. März und 6. Mai 1982 – 5 S 1584/82 – verletzen Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.

Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob den Beschwerdeführern die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist in einem zivilgerichtlichen Verfahren in verfassungswidriger Weise versagt worden ist.

1. Durch Endurteil des Amtsgerichts wurden die Beschwerdeführer als Gesamtschuldner zur Zahlung von 1 060,– DM verurteilt. Die von ihnen gegen dieses Urteil eingelegte Berufung ging beim Landgericht am 27. Februar 1982, einen Tag nach Ablauf der Berufungsfrist, ein. Die Beschwerdeführer beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründeten den Antrag damit, ihr Prozeßbevollmächtigter habe den Berufungsschriftsatz am 25. Februar 1982 zwischen 18.45 Uhr und 19.15 Uhr in den am Postamt Schwabach 1 befindlichen Briefkasten eingeworfen. Sie trugen dabei vor, sie hätten darauf vertrauen dürfen, daß ihr Berufungsschriftsatz am 26. Februar 1982 (einem Freitag) beim Landgericht eingehen würde, da nach einem Aushang über die Postlaufzeiten beim Postamt Schwabach in der Regel Briefe und Postkarten die Zustellung am nächsten Werktag in Nürnberg erreichten, wenn sie bis 23.00 Uhr in den Briefkasten beim Postamt Schwabach 1 eingeworfen würden.

2. Das Landgericht hat telefonisch eine Auskunft des Postamts Schwabach 1 eingeholt. Danach wird der Briefkasten um 19.00 Uhr und um 23.00 Uhr geleert; es sei aber nicht sicher, daß diese Post am nächsten Tag in Nürnberg ausgeliefert werden könne.

Durch Beschluß vom 26. März 1982 wies das Landgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück, wobei es zur Begründung im wesentlichen ausführte:

Die Beschwerdeführer hätten nicht glaubhaft gemacht, daß sie ohne Verschulden an der Wahrung der Berufungsfrist verhindert gewesen seien. Nach Auskunft des Postamts Schwabach 1 sei bei dem von ihnen vorgetragenen Sachverhalt nicht sichergestellt gewesen, daß der Brief bereits am folgenden Tag ausgetragen werde. Diese Erkundigung habe auch ihr Prozeßbevollmächtigter einholen müssen. Er habe sich nicht allein auf die Zusammenstellung der Brieflaufzeiten verlassen dürfen. Diese Aufstellung gebe nach der Auskunft des Postamts Schwabach 1 nur die regelmäßigen Postlaufzeiten wieder, ein Zugang des Briefes innerhalb der angegebenen Zeiten sei aber nicht sichergestellt. Dem Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführer sei es, da es sich um die Einhaltung der Berufungsfrist gehandelt habe, zuzumuten gewesen, seinen Schriftsatz in den Nachtbriefkasten des Gerichts einzuwerfen.

3. Durch Beschluß vom 6. Mai 1982 verwarf das Landgericht ihre Berufung gegen das Endurteil des Amtsgerichts als unzulässig; die Berufungsfrist sei nicht eingehalten und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist rechtskräftig abgelehnt worden.

II.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG. Sie berufen sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost. Das Landgericht verkenne die Bedeutung und Tragweite des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG bei der Auslegung des Merkmals „Verschulden” im Sinne des § 233 ZPO. Der Bürger könne darauf vertrauen, daß die von der Deutschen Bundespost nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten würden.

III.

Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Dieser Auffassung ist die Klägerin des Ausgangsverfahrens entgegengetreten.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, die angegriffenen Entscheidungen verletzen das Recht der Beschwerdeführer aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen (vgl. BVerfGE 53, 25 (28) m. w. N.). Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um den ersten Zugang zum Gericht oder um den Zugang zu einer weiteren von der Prozeßordnung vorgesehenen Instanz handelt (vgl. BVerfGE 44, 302 (306); 53, 25 (28); 54, 80 (84)).

Das Landgericht hat diese Grundsätze verkannt. Rechtsmittelfristen können bis zum letzten Tag ausgenutzt werden (vgl. BVerfGE 51, 352 (355)). Einem Bürger, der ein Rechtsmittel innerhalb einer bestimmten Frist einlegen muß und diese Frist bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausnutzt, darf nicht unter Hinweis auf eine Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt werden. Die Deutsche Bundespost hat für die Beförderung von Briefen das gesetzliche Monopol. In der Verantwortung des Absenders liegt es nur, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig zur Post zu geben, daß es nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger fristgerecht erreicht. Versagen die Vorkehrungen der Deutschen Bundespost, so hat das der Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, nicht zu vertreten.

Nach der von der Deutschen Bundespost bekanntgegebenen Regellaufzeit von Briefen zwischen Schwabach und Nürnberg hätte der Berufungsschriftsatz der Beschwerdeführer vom 25. Februar 1982 noch vor Ablauf der Berufungsfrist beim Landgericht eingehen müssen. Auf diese Angaben der Bundespost durften die Beschwerdeführer sich verlassen. Sie mußten entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht darüber hinaus prüfen, ob ein fristgerechter Zugang auch wirklich sichergestellt war. Demgemäß durfte das Landgericht nicht darauf abstellen, daß der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer seine Sorgfaltspflichten verletzt habe, weil er mit einer Verzögerung der Briefbeförderung durch die Post nicht gerechnet und auch nicht auf sonstige Weise für den rechtzeitigen Zugang der Berufungsschrift gesorgt habe.

Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem gerügten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das Landgericht den Beschwerdeführern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte, wenn es bei der Auslegung und Anwendung des § 233 ZPO den dargelegten Anforderungen hinreichend Rechnung getragen hätte.

Die angegriffene Entscheidung vom 26. März 1982 und der Verwerfungsbeschluß des Landgerichts vom 6. Mai 1982 waren daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1611082

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