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BFH Urteil vom 20.03.1952 - IV 480/51 S

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Verlegte ein Stpfl. im Jahre 1949 seinen Wohnsitz aus Groß-Berlin (West) in das Gebiet der Westzonen Deutschlands, so sind die Finanzämter dieses Gebietes nicht befugt, die im zweiten Halbjahr 1948 in Groß-Berlin (West) entstandene Einkommensteuer sowie das Notopfer Berlin nachzuerheben.

 

Normenkette

AO § 73a Abs. 2, § 75

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) flüchtete im Dezember 1947 aus der Ostzone in den brit. Sektor von Groß-Berlin. Im Februar 1949 siedelte er in die Westzonen Deutschlands über. Nachdem er vorübergehend bei seiner Mutter in ... gewohnt hatte, bezog er im Mai 1949 das von ihm erworbene Landhaus im Bezirk des Finanzamts R. in der amerikanischen Besatzungszone.

Durch Bescheid vom 12. September 1950 setzte das Finanzamt R. die Einkommensteuer und die Abgabe "Notopfer Berlin" für II/1948 fest. Die hiergegen eingelegte Sprungberufung blieb ohne Erfolg. Im Rechtsbeschwerdeverfahren wird, ebenso wie in der Vorinstanz, die Anforderung der Einkommensteuer und der Abgabe aus materiell-rechtlichen Gründen angegriffen. In erster Linie wird jedoch die Zuständigkeit des Finanzamts R. bestritten.

Die Vorentscheidung hatte die Zuständigkeit des Finanzamts R. mit dem Hinweis auf § 73a Absatz 2 der Reichsabgabenordnung (AO) in Verbindung mit § 54 der Buchungsordnung begründet. Der Steuerpflichtige (Stpfl.) sei durch das zuständige Berliner Finanzamt nicht besteuert worden. Nach der Finanzministerialentschließung vom 3. März 1948 S 1130 - 11814 V, betreffend Interzonale Besteuerung bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer (Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums der Finanzen S. 59), sei die Erhebung der Einkommensteuer und der Abgabe durch das Finanzamt R. berechtigt.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde ist begründet.

Die Entscheidung der Frage der Zuständigkeit des Finanzamts R. macht ein Eingehen auf den politischen Status von Groß-Berlin bzw. der Westzonen von Groß-Berlin notwendig. Am 5. Juni 1945 haben der Marschall der Sowjet-Union G. K. Shukow, Armeegeneral D. Eisenhower, Feldmarschall Montgomery und General De Lattre-Tassigny im Auftrage ihrer Regierungen die "Deklaration in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der übernahme höchster Autorität hinsichtlich Deutschlands durch die Regierungen des Vereinigten Königreichs, der Vereinigten Staaten von Amerika , der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und durch die provisorische Regierung der französischen Republik" erlassen (Verordnungsblatt der Stadt Berlin 1945 S. 21 ff.). Nach dieser Deklaration übernahmen die Regierungen dieser Staaten "die höchste Autorität hinsichtlich Deutschlands einschließlich aller Machtvollkommenheiten". Der Deklaration ist eine "Kurze Zusammenfassung des Abkommens über den Kontrollmechanismus in Deutschland" beigefügt. Gem. Ziffer 1 dieser Zusammenfassung wird die höchste Autorität während der Zeit der Erfüllung der Hauptforderungen der bedingungslosen Kapitulation durch den sowjetischen, britischen, amerikanischen und französischen Oberbefehlshaber, von jedem in seiner Besatzungszone, ausgeübt. Die vier Oberbefehlshaber bilden zusammen den Kontrollrat. Unter Ziffer 7 dieser Zusammenfassung wird bestimmt, daß die Verwaltung des Gebiets von Groß-Berlin von einer Interalliierten Kommandantur geleitet wird, die unter der gemeinsamen Leitung des Kontrollrats steht und aus vier Kommandanten besteht, von denen jeder abwechselnd die Befugnisse des Oberkommandanten ausübt. Der Deklaration ist eine weitere "Kurze Zusammenfassung über die Besatzungszone Deutschland" beigefügt. Hiernach wird Deutschland in vier Besatzungszonen eingeteilt, deren jede einem der vier Staaten zufällt. Hinsichtlich Groß-Berlin wird bestimmt, daß der Raum von Groß-Berlin von den Streitkräften jedes der vier Staaten besetzt wird. Zur gemeinsamen Verwaltung wurde eine Interalliierte Kommandantur eingesetzt, die aus vier Kommandanten bestand (Ziffer 2 der "Kurzen Zusammenfassung"). In dieser Regelung, die nicht nur militärischen, sondern auch staatsrechtlichen Charakter hat, wird dem "Raum von Groß-Berlin" eine Sonderstellung zugewiesen. Dadurch wurde Groß-Berlin besatzungsrechtlich mit allen sich hieraus ergebenden völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Folgen neben den vier Besatzungszonen ein besonderes Territorium, das man zutreffend als "fünfte Besatzungszone" bezeichnet hat. Es war staatsrechtlich aus jeder übergeordneten Gebietskörperschaft ausgegliedert. Siehe hierzu auch "Süddeutsche Juristenzeitung" 1946 S. 246. Will man in dieser Regelung nur ein Provisorium mit einer nicht eindeutigen Rechtsgrundlage sehen, so hat in jedem Falle der politische Status von Berlin mit der am 4. September 1946 erfolgten Verkündung der "Vorläufigen Verfassung von Groß-Berlin" durch die Alliierte Kommandantur ein festes Rechtsfundament erhalten (Verordnungsblatt der Stadt Berlin 1946 S. 295). Nach Artikel 1 dieser Verfassung ist Groß-Berlin" die für das Gebiet der Stadtgemeinde Berlin alleinige berufene öffentliche Gebietskörperschaft". Sie hat alle öffentlichen Aufgaben in ihrem Gebiet nach dieser Verfassung zu erfüllen. Nach Artikel 5 obliegen der Stadtverordnetenversammlung alle gesetzlichen Regelungen. Mit dieser vorläufigen Verfassung ist Groß-Berlin zu einer selbständigen Gebietskörperschaft erklärt worden, etwa vergleichbar mit dem staatsrechtlichen Status eines Landes. Die der Gebietskörperschaft von Groß-Berlin verliehenen Hoheitsrechte umschließen naturgemäß auch die Steuerhoheit. Im Laufe der folgenden Zeit, in der die Gegensätze zwischen der Sowjet-Union und den westlichen Alliierten immer stärker in Erscheinung traten, wurde Berlin schließlich das Feld, auf dem der "Kalte Krieg" geführt wurde. Die weitere Zuspitzung der Verhältnisse führte schließlich im Jahre 1948 zu einer Spaltung Berlins. Aus der anfangs faktischen Spaltung hat sich schließlich eine Art Rechtszustand entwickelt. Siehe hierzu auch Peters "Die staats- und völkerrechtliche Lage Berlins" in der Zeitschrift "Deutsche Verwaltung" Jahrgang 1949 S. 601 ff.

Die von der Vorentscheidung in Bezug genommene Finanzministerialentschließung vom 3. März 1948 sowie die Richtlinien des Bundesministers der Finanzen für die Besteuerung bei der Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer für II/1948 und das Kalenderjahr 1949 zwischen den Westzonen einerseits und Groß-Berlin (West) andererseits vom 26. Oktober 1950 (Bundesanzeiger Nr. 212 vom 2. November 1950) sind die Gerichte nicht bindende Verwaltungsanordnungen zur Herbeiführung eines interzonalen Finanzausgleichs. Sie gehen in jedem Falle zutreffend von dem Vorhandensein verschiedener Steuergläubiger aus, indem sie die Verteilung der den einzelnen Steuergläubigern zustehenden Steuerbeträge regeln.

In II/1948 hatte der Bf. seinen Wohnsitz in Groß-Berlin (West). Er hatte nur Einkünfte aus Groß-Berlin (West) bezogen. Alleiniger Steuergläubiger ist Groß-Berlin (West). Es ist daher rechtlich unzulässig, daß ein Finanzamt der Westzonen die für diesen Zeitraum in Groß-Berlin (West) erhobenen Steuern und Abgaben von dem Stpfl. nach Verlegung seines Wohnsitzes in die Westzonen für sich in Anspruch nimmt. Wäre der Stpfl. nicht in die Westzonen verzogen, so stände es außer Zweifel, daß zur Festsetzung und Erhebung der Steuern und Abgaben ausschließlich das zuständige West-Berliner Finanzamt als Behörde eines mit eigener Steuerhoheit ausgestatteten Staatsgebildes befugt gewesen wäre. Daran kann sich nichts ändern, wenn der Stpfl. nach Ablauf des Steuerabschnitts in das Gebiet der Westzonen verzieht. Die Unrichtigkeit der von den Vorbehörden vertretenen gegenteiligen Auffassung kann man am besten daran erkennen, daß nach § 5 der Dritten Steuerüberleitungsverordnung vom 22. Juni 1949 (Verordnungsblatt für Groß-Berlin 1949 Teil I S. 200) eine Veranlagung zur Umsatz-, Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer für den Zeitraum vom 1. Januar 1948 bis 31. März 1949 nicht vorzunehmen ist.

Das Verhältnis zwischen Groß-Berlin (West) zu den Westzonen Deutschlands ist wegen der oben unter Ziffer 2 dieses Urteils dargestellten staatsrechtlichen Entwicklung grundlegend anders geartet als die Beziehungen zwischen den zwar auf föderalistischer Grundlage selbständigen, aber im Rahmen der Deutschen Bundesrepublik mit einem besonderen gemeinsamen Finanzsystem unter Einschluß des gegenseitigen Finanzausgleichs geeinten Länder der Westzonen. Unter Berücksichtigung dieser Rechtslage können daher § 73a AO sowie § 54 der Buchungs-Ordnung für die Finanzämter dann nicht zum Zuge kommen, wenn ein Stpfl. - wie im Streitfall - im Jahre 1949 seinen Wohnsitz aus Groß-Berlin (West) in die Westzonen Deutschlands verlegte und es sich um Steuern handelt, die in II/1948 in dem nicht zum westdeutschen Finanzsystem gehörigen Groß-Berlin (West) entstanden sind. Ob die Rechtslage für die Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Stellung des Landes Berlin im Finanzsystem des Bundes (Drittes Steuerüberleitungsgesetz - vgl. Bundesgesetzblatt I Nr. 1 vom 9. Januar 1952 S. 1 - anders zu beurteilen wäre, ist hier nicht zu entscheiden.

Die angefochtene Entscheidung sowie der ihr zugrundeliegende Steuerbescheid des Finanzamts R. vom 12. September 1950, soweit sie die Festsetzung der Einkommensteuer und der Abgabe Notopfer Berlin für II/1948 betreffen, waren daher ersatzlos aufzuheben, ohne daß es eines Eingehens auf die materielle Rechtslage bedurfte.

Der Bf. hat mündliche Verhandlung beantragt. Es erschien dem Senat zweckmäßig, gemäß § 294 Absatz 2 AO zunächst ohne diese zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407383

BStBl III 1952, 129

BFHE 1953, 329

BFHE 56, 329

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