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BFH Urteil vom 19.05.1999 - XI R 99/96 (NV)

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Geringes Vermögen; keine Kürzung des Vorwegabzugs bei Pflichtversicherten

 

Leitsatz (NV)

  1. Ein Vermögen von bis zu 30 000 DM ist in der Regel gering (Anschluß an BFH-Urteil vom 14. August 1997 III R 68/96, BFHE 184, 315, BStBl II 1998, 241).
  2. Der Vorwegabzug wird nicht gekürzt bei Personen, die nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG pflichtversichert sind.
 

Normenkette

EStG 1990 § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a DBuchst. aa, § 33a Abs. 1 S. 2; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf (EFG 1996, 59)

 

Tatbestand

I. Die Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind miteinander verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Ihr 1957 geborener Sohn A studierte bis 1992 in den USA; seit 1993 ist er an der Universität X (Bundesrepublik Deutschland -BRD-) eingeschrieben. Die 1965 geborene Tochter B studierte in den Streitjahren (1992 und 1993) in Y (BRD).

Der Kläger ist Mitglied des Vorstandes einer AG. Ihm steht aufgrund einer Pensionszusage seiner Arbeitgeberin ein Anwartschaftsrecht auf eine Altersversorgung ohne eigene Beitragsleistung zu. Der Kläger ist zugleich aufgrund eines Antrags nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) rentenversichert. Die Beiträge zur BfA wie auch zur Krankenversicherung trägt der Kläger allein.

Der Sohn der Kläger besaß Investmentanteile (Kurswert zum 31. Dezember 1991: 53 083 DM; zum 31. Dezember 1992: 59 530 DM). Die Einnahmen aus diesen Anteilen beliefen sich 1992 auf 3 950 DM. Die Tochter der Kläger besaß ebenfalls Investmentanteile (Kurswert zum 31. Dezember 1992: 67 828 DM). Im Jahr 1993 erzielte sie durch Übersetzungsarbeiten Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von 6 261 DM und Einkünfte aus Kapitalvermögen, die geringer als 6 100 DM waren.

Die Kläger beantragten in ihrer Einkommensteuererklärung für 1992, von einer Kürzung des Vorwegabzugs abzusehen und die Unterhaltsaufwendungen für ihren Sohn in Höhe von 6 300 DM als außergewöhnliche Belastung abzuziehen. Für den Veranlagungszeitraum 1993 machten sie Unterhaltsaufwendungen für ihren Sohn von 6 300 DM und für ihre Tochter von 4 539 DM geltend. Der Beklagte, Revisionsbeklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) folgte dem nicht; er kürzte im Einkommensteuerbescheid für 1992 den Vorwegabzug um 7 344 DM (9 % von 81 600 DM). Die Klage hatte wegen des Abzugs der Unterhaltsaufwendungen Erfolg; die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 1996, 59 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt das FA die unrichtige Anwendung des § 33a Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes 1990 (EStG 1990); unschädliches Vermögen könne nur bis zu einem Verkehrswert von 30 000 DM angenommen werden (Abschn. 190 der Einkommensteuer-Richtlinien --EStR-- 1993).

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es den Abzug von Aufwendungen für den Unterhalt der Kinder zulasse, und die Revision der Kläger zurückzuweisen.

Die Kläger beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Einkommensteuer für 1992 auf ... DM festzusetzen, und die Revision des FA zurückzuweisen.

Das angefochtene Urteil verletze § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG 1990. Durch den Antrag auf Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 AVG unterliege der Kläger der gesetzlichen Rentenversicherung als Pflichtversicherter. Hinsichtlich der von 1990 bis 1992 geltenden Gesetzesfassung kämen das FA und das FG aufgrund der enumerativen Fassung des § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a EStG 1990 zu der Ansicht, daß allein schon das Vorliegen einer Versorgungszusage ohne eigene Beitragsleistung nach Doppelbuchst. cc zu einer Kürzung des Vorwegabzugs führe.

Diese nur dem Wortlaut folgende Auslegung widerspreche erkennbar Sinn und Zweck des Gesetzes. Aus dem Vergleich zu den bis 1989 und ab 1993 geltenden Gesetzesfassungen ergebe sich, daß die Personen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert seien und die ihre Beiträge allein trügen, unabhängig von der weiteren Ausgestaltung ihrer Altersvorsorge Anspruch auf den Sonderausgaben-Vorwegabzug hätten.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des FA ist begründet (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Kläger dürfen die an die beiden Kinder geleisteten Unterhaltsaufwendungen nicht als außergewöhnliche Belastung abziehen.

1. Voraussetzung für die steuerliche Berücksichtigung der einem Steuerpflichtigen zwangsläufig erwachsenden Aufwendungen für den Unterhalt einer Person, für die weder der Steuerpflichtige noch eine andere Person Anspruch auf einen Kinderfreibetrag hat, ist nach § 33a Abs. 1 Satz 2 EStG 1990 in der hier anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung vom 7. September 1990 (BGBl I, 1898, BGBl I 1991, 808) u.a., daß die unterhaltene Person kein oder nur ein geringes Vermögen besitzt.

In dem Urteil vom 4. April 1986 III R 19/85 (BFHE 148, 132, BStBl II 1987, 127) hat der III. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) ein Barvermögen von gut 3 000 DM als jedenfalls noch gering bezeichnet. Er hat dahinstehen lassen, ob die darüber wesentlich hinausgehende Auffassung der Finanzverwaltung zutrifft, die --seit dem Jahre 1975 unverändert (vgl. Abschn. 67 Abs. 2 Satz 4 der Lohnsteuer-Richtlinien --LStR-- 1975; bis dahin galt ein Betrag von 15 000 DM) --ein Vermögen von bis zu 30 000 DM "in der Regel" als ein noch geringes Vermögen ansieht (vgl. Abschn. 190 Abs. 4 EStR; Abschn. 96 Abs. 4 Sätze 4 und 5 LStR 1993). In dem BFH-Urteil vom 14. August 1997 III R 68/96 (BFHE 184, 315, BStBl II 1998, 241) vertritt der III. Senat --allerdings als obiter dictum-- die Ansicht, daß trotz der seit 1975 eingetretenen Geldentwertung ein Betrag von 30 000 DM nicht die Grenze unterschreite, bis zu der nach § 33a Abs. 1 Satz 2 EStG in dem Streitjahr 1991 Vermögen als gering unberücksichtigt zu bleiben habe. Ein solches Vermögen mache immerhin ein Mehrfaches des zur Sicherung des Existenzminimums jährlich Benötigten aus und stelle allemal einen "Notgroschen" dar, der den Unterhaltsberechtigten in die Lage versetze, eine unvorhergesehene Bedarfslage aus eigener Kraft zu bewältigen. Auch bestehe kein "unerträglicher" Widerspruch zwischen der Strenge, mit der das Gesetz vorschreibe, Vermögen zu berücksichtigen, und der relativ großzügig geregelten Anrechnungsfreiheit von Einkünften und Bezügen bis zu einer Höhe von 4 500 DM (§ 33a Abs. 1 Satz 3 EStG).

2. Der erkennende Senat schließt sich dieser Ansicht an. Entgegen der Auffassung des FG besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den zu berücksichtigenden Einkünften und Bezügen gemäß § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG auf der einen und dem Wert des "geringen Vermögens" auf der anderen Seite. Unter die zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge fallen nicht nur Einkünfte aus Kapitalvermögen, sondern auch Einkünfte aus anderen Einkunftsarten, bei deren Berücksichtigung der Gesetzgeber --z.B. im Hinblick auf eine aktive Erwerbstätigkeit-- großzügiger sein konnte, so daß die Einkünfte nicht nur als Rendite des eingesetzten Vermögens zu beurteilen sind. Gestützt wird diese Beurteilung durch die sozialrechtlichen Regelungen zum Einsatz eigenen Vermögens. In den Erläuterungen zu § 88 Abs. 2 Nr. 8 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) wird ein Betrag von maximal rd. 10 000 DM als kleiner, nicht einzusetzender Vermögenswert angesehen (vgl. Knopp/Fichtner/Wienand, Kommentar zum Bundessozialhilfegesetz, 7. Aufl., 1992, Rz. 16 zu § 88). Auch den weiteren Tatbeständen des § 88 Abs. 2 BSHG kann nicht entnommen werden, daß ein frei verfügbares Wertpapiervermögen nicht einzusetzen ist. Dementsprechend ist der Senat der Auffassung, daß schon die von der Verwaltung gezogene Grenze großzügig bemessen ist, daß aber ein Vermögen im Wert von 50 000 DM in jedem Fall nicht mehr als gering angesehen werden kann.

III. Die Revision der Kläger ist begründet (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Entgegen der Auffassung des FG ist der Vorwegabzug nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 EStG 1990 nicht zu kürzen.

1. Nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a Doppelbuchst. aa EStG 1990 ist eine Kürzung vorzunehmen bei Steuerpflichtigen, die pflichtversichert sind, aber die Pflichtbeiträge nicht allein tragen. Dementsprechend ist eine Kürzung nicht vorzunehmen bei Steuerpflichtigen, die --wie der Kläger-- pflichtversichert sind und ihre Pflichtbeiträge allein tragen.

Der Kläger war gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG in der Rentenversicherung versichert. Dieser Tatbestand ist geregelt unter "Erster Abschnitt - B. Kreis der versicherten Personen - I. Versicherungspflicht". Die Versicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG ist damit eine Form der gesetzlichen Versicherungspflicht (vgl. dazu auch Harthun-Kindl/Fichte, in Koch/Hartmann, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Bd. IV, § 2 AVG V 64/53 f.). In vergleichbarer Weise ist die in § 4 des Sozialgesetzbuches VI (SGB VI) geregelte "Versicherungspflicht auf Antrag" eine Erscheinungsform der im Ersten Abschnitt des SGB VI geregelten Versicherung kraft Gesetzes, die sich von der im Zweiten Abschnitt (§ 7 SGB VI) geregelten freiwilligen Versicherung unterscheidet. Machen Vorstandsmitglieder einer AG von dem Recht auf Antragspflichtversicherung Gebrauch, so üben sie eine rentenversicherungspflichtige Tätigkeit aus (Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 31. Mai 1989 4 RA 22/88, BSGE 65, 113).

2. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, daß nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a Doppelbuchst. cc EStG 1990 (s.a. Steuerreformgesetz --StRG-- 1990 vom 25. Juli 1988, BGBl I, 1093, BStBl I, 224; dazu Scheurmann-Kettner, Betriebs-Berater 1988, 2429) bei Steuerpflichtigen, die eine Altersversorgung ohne eigene Beitragsleistung erwerben, an sich eine Kürzung vorzunehmen ist. Ist nach einem der Tatbestände der Doppelbuchst. aa bis dd ausdrücklich vorgesehen, daß eine Kürzung nicht vorzunehmen ist, kann dieses Ergebnis nicht durch die isolierte Anwendung eines anderen Tatbestandes verdrängt werden; wer pflichtversichert ist und die Pflichtbeiträge allein erbringt, kann den Vorwegabzug ungekürzt in Anspruch nehmen.

Dieses Auslegungsergebnis ist vor allem auch vor dem Hintergrund der bis 1989 und ab 1993 geltenden Regelungen gerechtfertigt. Nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b EStG 1986/1987 mindert sich der Vorwegabzug nur bei Steuerpflichtigen, die --neben weiteren Voraussetzungen-- in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungsfrei waren (Doppelbuchst. aa) oder --nach Doppelbuchst. bb-- nicht der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht unterliegen (Nolde, in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 21. Aufl., § 10 EStG Anm. 401 b; Abschn. 106 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 EStR 1987). Vergleichbar ist die Rechtslage nach dem EStG 1990 i.d.F. des Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz vom 21. Dezember 1993 (BGBl I, 2310, BStBl I 1994, 50 --EStG 1993--): Nach § 10 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a EStG 1993 sind die Beträge unter anderem zu kürzen bei Steuerpflichtigen, die zum Personenkreis des § 10c Abs. 3 Nr. 1 oder 2 EStG 1993 gehören. Zu diesem Personenkreis gehören wiederum Steuerpflichtige, die in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungsfrei oder auf Antrag des Arbeitgebers von der Versicherungspflicht befreit waren (§ 10c Abs. 3 Nr. 1 EStG 1993) oder die nicht der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht unterliegen (§ 10c Abs. 3 Nr. 2 EStG 1993; Nolde, a.a.O., § 10 EStG Anm. 404). Nach der Gesetzesbegründung (BTDrucks 11/2157, 145) und nach übereinstimmenden Äußerungen in der Literatur (vgl. Nolde, a.a.O, § 10 EStG Anm. 401 a; Hutter, in Blümich, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Stand Juni 1994, § 10 EStG Rz. 385 ff.) war mit der Regelung des EStG 1990 insoweit keine in der Sache abweichende Regelung beabsichtigt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 422437

BFH/NV 2000, 22

DStRE 2000, 9

HFR 2000, 98

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