Kriterien für die Scheinselbstständigkeit von Rechtsanwälten

Entscheidend für die Abgrenzung zwischen freien Mitarbeitern und scheinselbständigen Rechtsanwälten sind das eigene Unternehmerrisiko, die organisatorische Eingliederung in die fremde Kanzlei, die Weisungsgebundenheit und die Art der Vergütung.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat einen Rechtsanwalt des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt schuldig gesprochen. Der Rechtsanwalt hatte ein Modell der freien Mitarbeit mit 12 zum Schein als selbständige Mitarbeiter beschäftigten Rechtsanwälten praktiziert. Der BGH hat in seiner Entscheidung die maßgeblichen Kriterien für die Abgrenzung zwischen freier Mitarbeit und Scheinselbständigkeit in Anwaltskanzleien herausgearbeitet.

12 „freie Mitarbeiter“ mit wenig Freiheit

Für den angeklagten Rechtsanwalt waren über mehrere Jahre 12 Rechtsanwälte als so genannte freie Mitarbeiter tätig. Die Mitarbeiterverträge sahen unter anderem vor, dass jeder Mitarbeiter verpflichtet war, seine Sozialversicherungsbeiträge selbst abzuführen. Jeder Mitarbeiter hatte das Recht, eigenes Personal einzustellen und das vereinbarte Jahreshonorar in 12 Teilbeträgen monatlich abzurufen. In 10 Fällen wurde der Grundvertrag durch eine Zusatzvereinbarung dahingehend korrigiert, dass die Beschäftigung eigenen Personals, die Bearbeitung eigener Mandate sowie Werbemaßnahmen mit der Kanzlei abzustimmen sind und der Zustimmung des Kanzleiinhabers bedürfen.

Anwälte in Vollzeit für Kanzleiinhaber tätig

Die Praxis gestaltete sich so, dass die 12 Rechtsanwälte ausschließlich für den Angeklagten in Vollzeit und überwiegend in dessen Kanzleiräumen tätig waren. Der Angeklagte teilte ihnen die zu bearbeitenden Mandate zu. Die gesamte Infrastruktur der Kanzlei einschließlich des Kanzleipersonals stand den Rechtsanwälten zur Verfügung. Das vereinbarte Jahreshonorar wurde von den Rechtsanwälten – wie vertraglich vorgesehen – regelmäßig monatlich anteilig abgerufen.

Verurteilung wegen Vorenthaltens von Sozialversicherungsbeiträgen

Das erstinstanzlich zuständige LG bewertete die Tätigkeit der mitarbeitenden Rechtsanwälte als abhängige, sozialversicherungspflichtige Tätigkeit. Dies sollte durch lediglich zum Schein geschlossene freie Mitarbeiterverträge verschleiert werden. Das LG verurteilte den Angeklagten wegen des Vorenthaltens und der Veruntreuung von Arbeitsentgelt (Sozialabgaben) in 189 Fällen gemäß § 266a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung, zu einer Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200 Euro und ordnete die Einziehung der Taterträge an.

BGH bestätigt Schuldspruch

In seiner Revisionsentscheidung bestätigte der BGH den Schuldspruch. Für die Abgrenzung zwischen scheinselbstständiger Beschäftigung und einer echten freien Mitarbeiterschaft stellte der BGH auf das Gesamtbild der zu erbringenden Arbeitsleistungen ab. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV seien maßgebliche Anhaltspunkte für eine abhängige Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisung, die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers sowie die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber (BSG, Urteil vom 28.6.2022, B 12 R 4/20).

Eigenes Unternehmerrisiko als maßgebliches Kriterium

Diese Kriterien gelten nach der Entscheidung des BGH grundsätzlich auch für die Beurteilung anwaltlicher Tätigkeit. Allerdings hat der Senat nicht verkannt, dass einige dieser Kriterien, insbesondere das Kriterium der Weisungsgebundenheit, aufgrund der Besonderheiten der anwaltlichen Tätigkeit hier an Trennschärfe und Aussagekraft verlieren. Als weitere maßgebliche Kriterien für die Beurteilung der selbständigen Tätigkeit eines Rechtsanwalts hat der BGH benannt:

  • Das eigene unternehmerische Risiko des Mitarbeiters,
  • die Unterhaltung einer eigenen Betriebsstätte,
  • die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft,
  • die im wesentlichen freie Gestaltung der Tätigkeit,
  • die frei wählbare Arbeitszeit und
  • die Art der Vergütung.

Insbesondere dem Fehlen des eigenen Unternehmerrisikos der mitarbeitenden Anwälte maß der BGH eine entscheidende Bedeutung zu.

Wertende Betrachtung der tatsächlichen Gegebenheiten

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sind nach dem Diktum des Senats die „tatsächlichen Gegebenheiten der gelebten Beziehung“ einer wertenden Gesamtbetrachtung zu unterziehen (BGH, Beschluss v. 24 9. 2019, 1 StR 346/18, BSG Urteil v. 4.6.2019, B 12 R 11/18). Im konkreten Fall hätten die mitarbeitenden Rechtsanwälte ihre volle Arbeitskraft dem Angeklagten mit 40-60 Stunden pro Woche zur Verfügung gestellt. Sie hätten kein eigenes Unternehmensrisiko getragen. Die Anwälte seien voll in den Kanzleibetrieb des Angeklagten eingegliedert gewesen und hätte die vereinbarte Vergütung wie Monatsgehälter abgerufen (BSG, Urteil v. 29.8.2012, B 12 KR 25/10 R). Dies alles stehe in Widerspruch zu dem Bild einer selbstständigen Tätigkeit.

Schadensentstehung für Straftatbestand unerheblich

In seiner Urteilsbegründung stellte der BGH ausdrücklich klar, dass die von den freiwillig gesetzlich versicherten Rechtsanwälten gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge nicht die Tatbestandsmäßigkeit des § 266a Abs. 1 StGB ausschließen, sondern erst auf der Strafzumessungsebene zu berücksichtigen sind. § 266 a Abs. 1 StGB sei ein echtes Unterlassungsdelikt, dessen Tatbestandsmäßigkeit bereits mit der schlichten Nichtzahlung geschuldeter Beiträge erfüllt sei. Auf die Entstehung eines finanziellen Schadens bei den Sozialversicherungsträgern komme es nicht an (BGH, Beschluss v. 11.8.2011, 1 StR 295/11).

Vorinstanz muss erneut über Rechtsfolgen entscheiden

Im Ergebnis hat der BGH den Schuldspruch des LG bestätigt, das Urteil der Vorinstanz aber hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des LG zurückverwiesen. Nach Auffassung des BGH hätte die Vorinstanz die Höhe der entzogenen Sozialbeiträge zur Festsetzung und Begründung der Strafhöhe exakter ermitteln müssen.

( BGH, Urteil v.8.3.2023, 1 StR 188/22)