Fall 1: Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses

Sachverhalt:
Ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer erkrankte ab 8.9.2022 und war über das kündigungsbedingte Ende seines Arbeitsverhältnisses am 30.9.2023 hinaus, arbeitsunfähig. Der Arbeitnehmer hatte einen Urlaubsanspruch von 28 Arbeitstagen pro Jahr, von dem er bis zum Zeitpunkt seiner Erkrankung im Jahr 2022 bereits 10 Tage in Anspruch genommen hatte.

Hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Abgeltung des nicht in Anspruch genommenen Urlaubs aus 2022?

Lösung:
Ja. Die noch bestehenden Urlaubsansprüche, die aufgrund der Krankheit des Arbeitnehmers bis zum Ende des Bezugszeitraums (hier: 31.12.2022) bzw. des Übertragungszeitraums (hier: 31.3.2023) nicht genommen werden konnten, mussten jedenfalls in Höhe des gesetzlichen Mindesturlaubs auf den laufenden Bezugszeitraum 2023 übertragen werden. Je nachdem, wie die Regelungen zum Urlaub im Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag ausgestaltet waren, musste darüber hinaus ggf. auch der vertragliche Mehrurlaub übertragen werden.

Ausgehend von einer 5-Tage-Woche stand dem Arbeitnehmer ein gesetzlicher Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen sowie ein darüber hinausgehender Urlaubsanspruch von 8 Tagen im Jahr 2022 zu, von dem er bereits 10 Tage in Anspruch genommen hatte. Für das Jahr 2022 verbleiben dem Arbeitnehmer daher 18 Tage Urlaub (inkl. vertraglichem Mehrurlaub), die aufgrund der Arbeitsunfähigkeit nicht am Ende des Jahres 2022 bzw. am Ende des gesetzlichen Übertragungszeitraums (hier: 31.3.2023) verfielen.

Aufgrund seiner andauernden Erkrankung hatte der Arbeitnehmer nicht die tatsächliche Möglichkeit, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, so dass ihm die verbleibenden 18 Urlaubstage aus 2022 bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses finanziell abzugelten waren.

Hinweis:
Der Arbeitgeber musste bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch den Urlaubsanspruch des laufenden Bezugszeitraums 2023 finanziell abgelten, da Arbeitnehmer diesen bereits zu Beginn des Jahres 2023 erworben hatte. Für die Entstehung des Urlaubsanspruchs ist unerheblich, ob der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums vollständig oder teilweise arbeitsunfähig war.

Praxistipp:
Das BAG hat entschieden, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres verfällt. Arbeits- oder tarifvertraglich vereinbarter Mehrurlaub ist grundsätzlich von einer solchen zeitlich befristeten Unverfallbarkeit nur erfasst, wenn er nicht abweichend vom gesetzlichen Mindesturlaub geregelt ist. Die jeweiligen Vertragsparteien können den vertraglichen Mehrurlaub aber frei regeln und auch seinen Verfall vereinbaren, so dass z.B. der vertragliche Mehrurlaub in jedem Fall am Ende des Übertragungszeitraums verfällt. Für abweichende Regelungen bezüglich des vertraglichen Mehrurlaubs müssen laut BAG aber deutliche Anhaltspunkte bestehen. Ohne eine ausreichend deutliche Trennung besteht die Gefahr, dass der gesamte Jahresurlaub bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit zu übertragen ist. Abhilfe schafft hier nur eine entsprechende eindeutige Anpassung im Arbeits- bzw. Tarifvertrag.

 

Fall 2: Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit im Übertragungszeitraum vor Ende des Arbeitsverhältnisses

Sachverhalt:
Ein langjährig beschäftigter Arbeitnehmer erkrankte am 8.9.2022. Von seinem Urlaubsanspruch in Höhe von 28 Arbeitstagen im Kalenderjahr hatte er bis zu seiner Erkrankung erst 10 Tage in Anspruch genommen. Seine Arbeitsfähigkeit erlangte der Arbeitnehmer erst wieder zum 1.1.2023. Ab 25.3.2023 erkrankte der Arbeitnehmer erneut. Während der Dauer der Erkrankung wurde das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitgeber zum 30.9.2023 gekündigt. Bis zum Beendigungstermin wurde der Arbeitnehmer nicht mehr gesund.

Kann der Arbeitnehmer die Abgeltung seines restlichen Jahresurlaubs aus 2022 verlangen?

Lösung:
Grundsätzlich wären die noch bestehenden Urlaubsansprüche aus 2022 mit dem Ende des Übertragungszeitraums (31.3.) verfallen, wenn der Arbeitnehmer trotz seiner zeitweiligen Erkrankung die tatsächliche Möglichkeit hatte, diese vollständig in Anspruch zu nehmen. Eine bloße Weigerung des Arbeitnehmers, in dieser Zeit Urlaub nehmen zu wollen, genügt nicht für eine weitere Übertragung der Urlaubsansprüche über den 31.3. des Folgejahrs hinaus. Erkrankt der Arbeitnehmer jedoch erneut vor Ablauf des Übertragungszeitraums, so sind die noch bestehenden (gesetzlichen) Urlaubsansprüche in der Höhe zu übertragen, in der sie aufgrund der Krankheit nicht mehr genommen werden konnten. Zwar hätte der Arbeitnehmer auch zu einer früheren Zeit (im Übertragungszeitraum) die Urlaubsansprüche abbauen können. Allerdings ist der Eintritt einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht vorhersehbar. Der Arbeitnehmer hätte seinen Urlaub daher - wenn auch nicht mehr in voller Höhe - bis kurz vor Ablauf des Übertragungszeitraums (31.3.) nehmen können, wäre er nicht wieder erkrankt. Somit ist im vorliegenden Fall der Urlaub, der in der Zeit vom 25. - 31.3.2023 theoretisc...

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