Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksamkeit der Einwilligung bei Aufklärung über die Risiken einer Operation, wenn die Einwilligung durch Unterzeichnung des Aufklärungsformulars unmittelbar nach dem Ende des Aufklärungsgesprächs erfolgt

 

Leitsatz (amtlich)

1. Da nach § 630e Abs. 2 Nr. 2 BGB die Aufklärung über die Risiken einer Operation so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann, ist eine Einwilligung, die durch Unterzeichnung des Aufklärungsformulars unmittelbar nach dem Ende des Aufklärungsgesprächs erfolgt, im Regelfall unwirksam, weil dieser zeitliche Ablauf dem Patienten nicht die Möglichkeit eröffnet, den Inhalt des Aufklärungsgesprächs so zu verarbeiten, dass er sich wohlüberlegt entscheiden kann (im Anschluss an OLG Köln, Urteil vom 16. Januar 2019 - I-5 U 29/17).

2. Die Annahme einer konkludenten Einwilligung des Patienten durch die spätere stationäre Aufnahme ins Krankenhaus wird regelmäßig daran scheitern, dass einerseits dem Patienten das für die Abgabe einer entsprechenden Willenserklärung notwendige Erklärungsbewusstsein fehlen wird und andererseits das Krankenhaus dem Verhalten des Patienten keinen Erklärungswert beimessen wird, solange beiden das Bewusstsein der Unwirksamkeit der Einwilligung fehlt.

 

Normenkette

BGB § 630e Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LG Bremen (Aktenzeichen 1 O 1708/17)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 20.12.2022; Aktenzeichen VI ZR 375/21)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts, 1. Zivilkammer, vom 2.12.2020, Az. 1 O 1708/17, abgeändert.

Der Anspruch des Klägers auf Ersatz des Schadens aus der ärztlichen Behandlung durch die Beklagte vom 4.11.2013 bis zum 5.1.2014 im Klinikum Bremen-Mitte ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen zukünftigen materiellen Schaden sowie sämtlichen weiteren zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit dieser nicht von den im Berufungsverfahren gestellten Klaganträgen 1., 2. und 4. umfasst ist oder die Forderungen auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen behaupteter Aufklärungs- und Behandlungsfehler im Zusammenhang mit einer operativen Begradigung der Nasenscheidewand und einer Nasennebenhöhlenoperation am 4.11.2013 in der HNO-Klinik der Beklagten im Klinikum [...].

Der Kläger wurde von seinem behandelnden HNO-Facharzt im Hinblick auf eine mögliche Operation der Ohren (Mastoidektomie) in die HNO-Klinik der Beklagten überwiesen und dort in der Ambulanz am 28.10.2013 behandelt. Dort berichtete er Prof. Dr. N. von chronisch rezidivierenden Ohrenentzündungen und Paukenergüssen. Dieser riet dem Kläger zunächst zur Operation der Nasen-Septum-Plastik zur Optimierung der Nasenluftpassage sowie einer sich daran in zeitlichem Abstand von 6-8 Wochen anschließenden Mastoidektomie. Am 1.11.2013 unterzeichnete der Kläger die Operationseinwilligung für die Nasen-Septum-Plastik. Am 4.11.2013 wurde der Kläger stationär aufgenommen und der Eingriff zur Begradigung der Nasenscheidewand sowie eine vollständige Nasennebenhöhlenoperation durch den Oberarzt Dr. P. durchgeführt. Unter der OP trat eine stärkere arterielle Blutung auf. Postoperativ war der Kläger nicht erweckbar. Im CT zeigte sich eine Hirnblutung. Bei der daraufhin erfolgten neurochirurgischen Intervention wurde festgestellt, dass es bei der ersten OP zu einer Duraverletzung, der Verletzung der vorderen Hirnschlagader und zu einer Durchtrennung des Riechnervs links gekommen war. Der Kläger wurde intubiert und beatmet auf die Intensivstation verlegt und im Folgenden neurochirurgisch behandelt. Im weiteren Verlauf entwickelte er eine systemische Entzündungsreaktion des Körpers und wurde am 8.11.2013 erneut operiert. Es folgten weitere stationäre und ambulante Behandlungen in anderen Kliniken in den Jahren 2014 und 2015 sowie ergotherapeutische Behandlungen.

Der Kläger hat behauptet, die Operation am 4.11.2013 sei technisch fehlerhaft durchgeführt worden, insbesondere habe der Operateur die äußerste Sorgfalt, die im Bereich des dünnen und besonders verletzlichen Siebbeins stets und aufgrund der hier erkannten deutlich ausgedünnten Frontobasis-Abdeckung besonders erforderlich gewesen sei, nicht eingehalten. Die präoperative Diagnostik sei nicht ausreichend gewesen. Es hätte ein CT mit koronarer Schichtung veranlasst werden müssen.

Ferner hat der Kläger Aufklärungsfehler gerügt. Es habe keine Aufklärung über Behandlungsalternativen dahingehend gegeben, dass ein Zuwarten und zunächst eine weitere Behandlung der Ohren möglich gewesen wären. Die Operation der Nase sei - anders als von Prof. Dr. N. dargestellt - nicht gegenüber der Ohrenoperation vorrangig gewesen und nicht erforderl...

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