Entscheidungsstichwort (Thema)

Antragsrücknahme bei Zustimmungsverweigerung des Antragsgegners. Nichtigkeit einer Betriebsratswahl. Gesetzliche Fiktion eines Betriebsteils nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Hauptbetrieb außerhalb des Geltungsbereichs des BetrVG. Untersagung der Initiierung der Wahl eines Wahlvorstands

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Verweigert der Antragsgegner seine Zustimmung zur Antragsrücknahme, wird diese gegenstandslos. Die mit ihr angestrebte prozessuale Wirkung tritt endgültig nicht ein. Sie verliert auch für die Antragstellerin ihre Bindungswirkung, ohne dass es eines Widerrufs bedarf. Das Verfahren geht weiter; die Rechtshängigkeit bleibt bestehen.

2. Voraussetzung für die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl ist ein so eklatanter Verstoß gegen allgemeine Grundsätze jeder ordnungsgemäßen Wahl, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr besteht. Wegen der weitreichenden Folgen einer von Anfang an unwirksamen Betriebsratswahl kann deren jederzeit feststellbare Nichtigkeit nur bei besonders gravierenden und krassen Wahlverstößen angenommen werden.

3. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG bestimmt im Wege einer gesetzlichen Fiktion, dass ein Betriebsteil als selbständiger Betrieb gilt, wenn er räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt ist. Für einen solchen Betriebsteil ist grundsätzlich ein eigener Betriebsrat zu wählen.

4. Ob die Annahme eines betriebsratsfähigen Betriebsteils i.S.d. § 4 Abs. 1 BetrVG immer einen im Inland gelegenen Hauptbetrieb als Bezugspunkt für den Betriebsteil voraussetzt, ist bislang nicht höchstrichterlich geklärt. Liegt der Hauptbetrieb außerhalb des Geltungsbereichs des Betriebsverfassungsgesetzes, ist zumindest eine entsprechende Anwendung von § 4 Abs. 1 BetrVG möglich und geboten.

5. Die generelle Initiierung der Wahl eines Wahlvorstands kann nur dann untersagt werden, wenn sofort klar und offensichtlich ist, dass jede durch einen Wahlvorstand durchgeführte Betriebsratswahl bezogen auf den Teilbetrieb nichtig wäre, wenn also ein offensichtlicher und besonders grober Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften für die Durchführung der Wahl vorläge.

 

Normenkette

BetrVG § 4; ArbGG § 85 Abs. 2; BetrVG §§ 1, 18 Abs. 2, § 117 Abs. 1 S. 2, Abs. 2; ArbGG § 81 Abs. 2 S. 2, § 87 Abs. 2 S. 3; ZPO §§ 935, 940

 

Verfahrensgang

ArbG Cottbus (Entscheidung vom 07.12.2022; Aktenzeichen 2 BVGa 7/22)

 

Tenor

Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Cottbus vom 07.12.2022 - Az. 2 BVGa 7/22 - wird, soweit der Beschwerde nicht mit Teilbeschluss vom 08.12.2022 - Az. 4 TaBVGa 1301/22 - stattgegeben wurde, zurückgewiesen.

 

Gründe

I.

Die zu 1. beteiligte Antragstellerin (nachfolgend Arbeitgeberin) begehrt im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens der in diesem Verfahren zu 2. beteiligten Gewerkschaft A (nachfolgend Gewerkschaft) zu untersagen, die Wahl eines Wahlvorstandes bei der Arbeitgeberin bezogen auf den Stationierungsort Flughafen Berlin Brandenburg bis zur rechtskräftigen Klärung der Frage nach der Betriebsratsfähigkeit in einem Verfahren nach § 18 Abs. 2 BetrVG zu initiieren bzw. durch- oder fortzuführen.

Die Arbeitgeberin ist ein Luftfahrtunternehmen mit Sitz in M. Sie führt unter maltesischer Fluglizenz Flüge von und zu Flughäfen in Deutschland, unter anderem dem Flughafen Berlin Brandenburg (BER), durch. Die Arbeitgeberin beschäftigt circa 50 Cockpitmitarbeiter und circa 270 Mitarbeiter als Kabinenpersonal, deren Heimatbasis der Flughafen BER ist. Bodenpersonal beschäftigt die Arbeitgeberin am Flughafen BER nicht. Im Unternehmen der Arbeitgeberin besteht weder ein Betriebsrat noch ein Gesamtbetriebsrat. Seit 2019 geführte Gespräche zwischen der Arbeitgeberin und der Gewerkschaft über die Errichtung einer Vertretung durch Tarifvertrag gemäß § 117 Absatz 2 BetrVG (Betriebsverfassungsgesetz) blieben bisher erfolglos.

Die Antragstellerin betreibt an verschiedenen Flughäfen in Deutschland sog. "Basen" (englisch "bases"). Die Arbeitgeberin ernannte an jedem Flughafen, an dem sie eine Basis ("Base") unterhält, einen sog. Base Captain und einen sog. Base Supervisor.

Die Rolle des Base Captains und des Base Supervisors sind in einem Betriebshandbuch der Arbeitgeberin vom 7.11.2022 beschrieben. Unter der Überschrift 1.3.6 des Handbuchs mit dem Namen wird die Rolle des Base Captains im englischen Original folgendermaßen beschrieben:

"1.3.6 Base Captains

Base Captains are appointed for those stations at which M Air Flight Crew are based. Base Captains report to NPFO through DPFO on all matters of regulatory compliance, aircraft operation, safety, FM and standards. Base Captains are responsible for ensuring that Flight Operations from their bases are conducted in a safe, efficient, punctual, and regulatory compliant manner according to approved M Air policies and procedures. Base Captains are trained ASR Investigators and conduct local safety investigations as directed by Safety Office. Base Captains are the NPFO representatives to locally based crew an...

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