Rz. 615

Auch bei einer bereits lang andauernden krankheitsbedingten Leistungsunfähigkeit ist auf der 1. Stufe der Prüfung der sozialen Rechtfertigung eine negative Prognose dahingehend erforderlich, die Arbeitsunfähigkeit werde voraussichtlich längere oder nicht absehbare Zeit andauern.[1] Beurteilungszeitpunkt ist hier ebenfalls der Zugang der Kündigung. Eine lang andauernde Erkrankung in der Vergangenheit kann Indizwirkung entfalten, jedoch kommt es nicht auf die bisherige Dauer der Arbeitsunfähigkeit an. Das BAG stellt auf die Unvorhersehbarkeit des Zeitpunkts einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ab und die sich gerade daraus ergebende Situation der Ungewissheit, welche sich unzumutbar betrieblich auswirkt.[2] Seiner Darlegungslast für eine negative Prognose genügt der Arbeitgeber zunächst durch den Vortrag der bisherigen Dauer der Erkrankung und der ihm bekannten Krankheitsursachen. Dem muss der Arbeitnehmer entgegentreten.[3] Die nach Zugang der Kündigung in Gang gesetzte gesundheitliche Entwicklung ist bei der Prüfung, ob die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, nicht mehr zu berücksichtigen.

 

Rz. 616

Mit einer lang andauernden Erkrankung, bei der eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht innerhalb der nächsten 24 Monate zu prognostizieren ist, ist regelmäßig eine für den Arbeitgeber unzumutbare, erhebliche betriebliche Beeinträchtigung verbunden, ohne dass diese näher dargelegt werden müsste. Hier bezieht sich das BAG auf den nach § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG längstens zu überbrückenden Zeitraum mittels einer sachgrundlos befristeten Vertretung.[4]

Bei kürzeren Prognosezeiträumen ist im Rahmen der 2. Stufe zu prüfen, ob als milderes Mittel zur Kündigung Überbrückungsmaßnahmen getroffen oder dem Arbeitnehmer ein leidensgerechter Arbeitsplatz zugewiesen werden kann. I. d. R. fallen bei langdauernden Erkrankungen keine erheblichen wirtschaftlichen Belastungen für den Arbeitgeber an, weil dieser nach 6 Wochen keine Entgeltfortzahlung mehr zu leisten hat.

 

Rz. 617

Bei der Interessenabwägung kann neben den sozialen Daten des Arbeitnehmers (Unterhaltsverpflichtungen, Betriebszugehörigkeitsdauer, Ursache der Erkrankung, Alter) zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sein, dass das Arbeitsverhältnis bereits durch die lang anhaltende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers in der Vergangenheit belastet worden ist und der Arbeitgeber zunächst längere Zeit zugewartet hat, bevor er eine Kündigung ausgesprochen hat.

[1] BAG, Urteil v. 12.7.2007, 2 AZR 716/06, NZA 2008, 173; BAG, Urteil v. 20.11.2014, 2 AZR 664/13, AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 53.
[3] BAG, Urteil v. 13.5.2015, 2 AZR 565/14, AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 54.
[4] BAG, Urteil v. 13.5.2015, 2 AZR 565/14, AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 54.

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