Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Berufungsbegründung. Soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG. Erforderlichkeit einer Abmahnung vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung. Entbehrlichkeit einer Abmahnung. Auflösungsgründe für den Arbeitgeber i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG

 

Leitsatz (amtlich)

Einzelfallentscheidung zu einer Kündigung wegen des (hier nicht bewiesenen) Vorwurfs falscher Anschuldigungen gegenüber einem Vorgesetzten

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll.

2. Eine Kündigung ist durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist.

3. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Ultima ratio-Prinzip scheidet eine Kündigung aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers - wie etwa eine Abmahnung - geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken.

4. Einer Abmahnung bedarf es nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten oder die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich auch für den Arbeitnehmer erkennbar ausgeschlossen ist.

5. Als Auflösungsgründe für den Arbeitgeber kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet.

 

Normenkette

ZPO § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 S. 2; EuGVVO Nr. 1215/2012 Art. 20 Abs. 2; EuGVVO Nr. 1215/2012 Art. 21 Abs. 2; BGB § 241 Abs. 2, § 314 Abs. 2, § 323 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Köln (Entscheidung vom 18.01.2022; Aktenzeichen 6 Ca 1367/20)

 

Tenor

  • I.

    Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 18.01.2022 - 6 Ca 1367/20 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

    1. Es wird festgestellt, dass die am 24.02.2020 an den Kläger erteilte Weisung, mit Wirkung ab dem 01.03.2020 als Sachbearbeiter in I/Republik Türkei zu arbeiten, unwirksam ist.
    2. Es wird festgestellt, dass die am 06.01.2020 an den Kläger erteilte Weisung, mit Wirkung ab dem 06.01.2020 als Sachbearbeiter am Verkaufsschalter des Flughafens K/B zu arbeiten, unwirksam ist.
    3. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden fristlosen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden ist.
    4. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden ordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden ist.
    5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  • II.

    Im Übrigen wird die Berufung - einschließlich des Auflösungsantrags - zurückgewiesen.

  • III.

    Die Kosten des Rechtsstreits sind zu 53% von der Beklagten und zu 47% vom Kläger zu tragen.

  • IV.

    Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung und eines im Berufungsverfahren hilfsweise gestellten Auflösungsantrags der Beklagten sowie über die Weiterbeschäftigung des Klägers und über die Wirksamkeit zweier Versetzungen.

Der verheiratete und einem Kind gegenüber zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 26.04.2010 bei der Beklagten beschäftigt. Zuletzt war er als Operations- und Verkaufsleiter in K zu einer monatlichen Bruttovergütung von 6.833,62 Euro tätig.

Die Beklagte ist ein teilstaatliches türkisches Luftverkehrsunternehmen mit Sitz in I, das in Deutschland mehrere Zweigstellen, u.a. in S, D und K unterhält.

Nachdem der Kläger zunächst auf der Grundlage verschiedener deutscher Arbeitsverträge tätig gewesen war, beantragte er im Februar 2018 einen Status als Expatriat unter Anwendung türkischen Rechts. In der Folge schlossen die Parteien am 27.02.2018 einen Aufhebungsvertrag mit Wirkung zum Ablauf des 31.03.2018. Am 01.04.2018 schlossen die Parteien einen neuerlichen Arbeitsvertrag, der in Ziff. 7 eine Rechtsw...

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