Die tragenden Grundsätze des Unterhaltsrechts, nach denen nur bei Bedürftigkeit Unterhalt geltend gemacht werden kann (§§ 1577, 1602 BGB) und bei Leistungsunfähigkeit kein Unterhalt geschuldet wird (§§ 1581, 1603 BGB), stellen nicht allein auf tatsächlich vorhandenes Einkommen ab. Hinterfragt werden müssen auch die Ursachen für die Leistungsunfähigkeit, was im Einzelfall dazu führen kann, dass bei selbstverschuldeter Mittellosigkeit fiktive Einkünfte zuzurechnen sind.

Maßgebend für die Leistungsfähigkeit ist daher nicht nur das tatsächlich verfügbare Einkommen, sondern auch die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, so dass auch Einkommen heranzuziehen sein kann, das der Unterhaltspflichtige zwar tatsächlich nicht erzielt, unter zumutbarer Ausnutzung seiner Arbeitsfähigkeit aber erzielen könnte. Wird dies unterlassen, muss sich der Unterhaltspflichtige fiktiv das Einkommen zurechnen lassen, welches er hätte erzielen können, wenn er seiner Verpflichtung genügt hätte.[18] Die von der Rechtsprechung insoweit gestellten Anforderungen sind durchaus hoch. Allerdings ist zu beachten, dass sich Entscheidungen im Zusammenhang mit der gegenüber minderjährigen oder privilegiert volljährigen Kindern gesteigerten Erwerbspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB nicht auf den vom Grundsatz der Eigenverantwortung beherrschten nachehelichen Unterhalt übertragen lassen. Auch bei der Beurteilung der Erwerbspflicht ist stets auf eine realitätsgerechte Beurteilung zu achten, die nicht zu unerfüllbaren Anforderungen führen darf.

Unzulängliche Erwerbsbemühungen rechtfertigen die Zurechnung eines fiktiven Einkommens zudem nur dann, wenn für den Unterhaltspflichtigen eine reale Beschäftigungschance besteht.[19] Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG[20] sind dabei alle persönlichen Umstände (Alter, Ausbildung, Berufserfahrung, Gesundheitszustand) zu beachten. Von einer realen Beschäftigungschance ist daher etwa nicht auszugehen, wenn der Unterhaltspflichtige als Ausländer keine Aufenthaltserlaubnis besitzt und dementsprechend keinen Anspruch auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis hat. Bei der Zurechnung fiktiver Nebenverdienste ist am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ob die zeitliche und psychische Belastung durch die ausgeübte und zusätzliche Arbeit dem Unterhaltspflichtigen unter Berücksichtigung auch der Bestimmungen, die die Rechtsordnung zum Schutz der Arbeitszeit vorgibt, abverlangt werden kann.[21]

[19] OLG Schleswig FamRZ 2022, 1283 zum Kindesunterhalt.
[20] FamRZ 2012, 1283; FamRZ 2010, 793, 626 und 183; FamRZ 2008, 1403.
[21] BVerfG FamRZ 2003, 661; FamRZ 2008, 872.

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