Systemisches Coaching

Beim systemischen Coaching, einem der meistgenutzten Coaching-Verfahren, geht es darum, das Verhalten einzelner Menschen nicht nur durch ihre individuellen Eigenheiten zu erklären, sondern auch darum, in welchem Umfeld sie sich gerade befinden.

Psychologen machten früh die folgende Erfahrung: In Feriencamps allein auf sich gestellt, wurden verhaltens­auffällige Kinder schnell "normal". Kamen sie aber in ihre Familien zurück, dann zeigten sie wieder das vorherige des­truktive Verhalten. Erst der Ansatz, das "System" Familie zu therapieren, brachte oft den gewünschten Erfolg. Und weil im Berufsalltag eine Arbeitsgruppe oder ein Team auch ein "System" ist, ähnlich wie eine Familie, übernahm etwa ab dem Jahr 2004 das Business-Coaching einige Werkzeuge aus der Familientherapie. 

Fragen zur Gesamtsituation des Coachees

Eines der wichtigsten Tools, die ein am "System" arbeitender Coach zur Verfügung hat, sind Fragen, mit denen er dem Klienten einen Rundumblick über die Gesamtsituation ermöglicht. Denn erst dadurch werden Veränderungen wahrscheinlich. Ein Beispiel: Viele Chefs lernen im Laufe ihres Berufslebens, dass Druck Mitarbeiter zu mehr Leistung anspornt. Sie sehen aber nicht, dass noch mehr Druck  nicht zu mehr Leistung, sondern zu Demotivation und Leistungsverweigerung führt. Der Coach könnte den Chef dazu bringen, über seinen rabiaten Führungsstil nachzudenken, indem er fragt: "Wenn der immer wieder krankfeiernde Mitarbeiter einen Wunsch an Sie hätte, was glauben Sie, würde er sich von Ihnen wünschen?" Ein Chef, der diese Art von Frage zum ersten Mal hört, wird zum Coach möglicherweise sehr genervt sagen: "Fragen Sie den Mitarbeiter doch selber!" Aber darum geht es nicht. Der Chef soll durch eigenes Nachdenken herausfinden, was er selbst ändern kann, um den Mitarbeiter zu Veränderungen zu bringen.

Anleitung zum Perspektivenwechsel

Beim systemischen Coaching wird der Klient angeleitet, sich in die Lage der anderen hineinzuversetzen. Dabei geht es nicht um Zahlen, Daten, Fakten, sondern um die Gefühle und Meinungen der Beteiligten! Die Fragen, um den Klienten dazu zu bringen, sich in die anderen hineinzuversetzen, heißen zirkuläre Fragen: "Was glauben Sie, denkt Ihr Mitarbeiter über Ihre Anweisung?" Oder: "Wenn Ihr Mitarbeiter einen Wunsch frei hätte, was glauben Sie, würde er sich von Ihnen wünschen?" Der Klient begreift durch diese Art von Fragen früher oder später, dass seine Sicht der Wirklichkeit immer nur eine Möglichkeit von vielen ist.

Coach und Klient sammeln im Rahmen ihrer Dialoge unterschiedliche Pers­pektiven zu einem Thema – und wenn es gut läuft, fangen beide an, schon einmal gemeinsam zu spekulieren, was der systemische Rundumblick an neuen Ideen für ein wirklich besseres Mitein­ander am Arbeitsplatz bringt. Weitere zirkuläre Fragen könnten zum Beispiel sein:

  • Was würden Ihre Kollegen und Kolleginnen sagen, wenn Sie sich in dieser Situation anders positionieren?
  • Was würde Ihr Kunde sagen, wenn Sie ihm schon wieder eine Veränderung vorschlagen?
  • Wer leistet aus Sicht der Geschäftsleitung bessere Arbeit: Sie oder Ihr Kollege?
  • Wenn Ihr Mitarbeiter jetzt hier wäre und zugehört hätte: Was würde er sagen, wenn wir ihn um einen Kommentar bitten?

Logischerweise muss das, was ein Klient den anderen Menschen um ihn herum als Meinung unterstellt, nicht deren tatsächlichem Denken entsprechen. Es reicht, wenn auf diese Art neue Perspektiven entstehen. Die Praxis zeigt, dass Klienten häufig von den Antworten, die sie den Mitarbeitern in den Mund legen, sehr überrascht sind und spontan merken, wie sie anfangen, ihr "System" mit anderen Augen zu sehen.

Verschiedene Arten von Fragen im Gespräch

Es gibt auch noch weitere Arten zu fragen, die typisch für das systemische Coaching sind: 

  • Skalierungsfragen: "Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie erfolgreich waren Sie beim Versuch, Ihre Mitarbeiter zu loben?" oder: "Was müsste passieren, damit Sie auf der Skala von einer 6 auf eine 8 kommen?"
  • Hypothetische Fragen: "Was wäre, wenn das Problem von heute auf morgen einfach verschwunden wäre?" oder: "Woran würden Sie als erstes merken, dass das Problem nicht mehr vorhanden ist?"
  • Paradoxe Fragen: "Was können Sie tun, um das Projekt endgültig zum Scheitern zu bringen?" oder: "Was müssten Sie tun, um sich noch viel ausgebrannter zu fühlen?"

Grundsätzlich gilt: Wenn ein Mensch immer nur auf seine Sicht der Dinge beharrt, dann ist das destruktiv, weil er automatisch alle anderen Sichtweisen für irrational und nicht beachtenswert hält. Die Zirkularität ist nur eines von fünf Grundprinzipien des systemischen Denkens. Die anderen Prinzipien befassen sich damit, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt und interpretiert, wie ein System danach strebt, sich langfristig selbst zu erhalten und wie Teile eines Systems untereinander vernetzt sind. Zur systemischen Sichtweise gehört auch, dass man sorgfältig zwischen dem Beobachter und dem, was er beobachtet, unterscheidet. Wenn ein Leser (Beobachter) sagt: "Das Buch (Gegenstand der Beobachtung) hat mir überhaupt nichts gebracht", dann sagt das weniger über die Qualität des Buchs aus als vielmehr etwas über den Leser. Offenkundig war er nicht in der Lage, das Buch für seinen Lernprozess zu nutzen.

Gängige Kritik am systemischen Coaching-Ansatz

Kritiker befürchten, dass sich Coachs möglicherweise immer gleich auf das System stürzen, ohne zu analysieren, ob das Anliegen eines Klienten tatsächlich etwas mit seiner Beziehung zur Umwelt zu tun hat. Ein Mensch, der Angst hat, vor Gruppen frei zu sprechen, ist hirnphysiologisch oft einfach nur zu sensibel. Seine Angst kann mit einer auf ihn abgestimmten Verhaltenstherapie viel besser gemildert werden als mit systemischen Techniken.

Die systemische Therapie gilt grundsätzlich als sehr erfolgreich. Im Jahr 2008 erhielt sie eine wichtige Anerkennung durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) der Bundespsychotherapeutenkammer und der Bundesärztekammer und erlangte die Anerkennung als Kassenleistung im Gesundheitssystem. Leider konnte beobachtet werden, dass Coachs den Aufstieg des Begriffs "systemisch" nutzten, um sich als modern und seriös  darzustellen, ohne sich durch eine Weiterbildung entsprechendes Fachwissen angeeignet zu haben. Natürlich gilt das längst nicht für alle systemischen Coachs. Aber niemand konnte verhindern, dass das Wort "systemisch" aus allen nur denkbaren Richtungen ausgehöhlt wurde und zur Marketing-Masche verkam.


Lesen Sie diesen Beitrag auch in Ausgabe 7+8/2022 der Zeitschrift "wirtschaft+weiterbildung".

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