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BFH Beschluss vom 24.02.1981 - VIII B 14/78

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Leitsatz (amtlich)

§ 155 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 AO 1977 i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980 (BGBl I 1980, 1545, BStBl I 1980, 589) sind auch dann im gerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen, wenn die Verwaltungsentscheidung vor Inkrafttreten dieser Vorschriften ergangen ist.

 

Normenkette

AO 1977 § 155 Abs. 2, § 162 Abs. 3; FGO § 69

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) begehrte in seiner Einkommensteuererklärung für 1972 bis 1975 den Ausgleich (§ 2 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) und Abzug (§ 10d EStG) folgender

Verlustanteile aus Beteiligungen an drei Abschreibungsgesellschaften:

1972 1973

SA Leasing

540 000 DM

TB Leasing

120 000 DM

C Film

433 413 DM

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte diese Verlustanteile in den Einkommensteuerbescheiden 1972 bis 1975 nicht, mit der Begründung, daß die Feststellungsbescheide der Betriebs-FÄ hierfür noch nicht vorlägen. Der Antragsteller legte gegen die Einkommensteuerbescheide Einspruch ein. Seinen Antrag, die Vollziehung der Einkommensteuerbescheide bis zum Ergehen der Feststehungsbescheide in Höhe der Beträge auszusetzen, um die sich die Steuerforderungen mindern würden, wenn die Beteiligungsverluste anerkannt würden, lehnte das FA ab.

Das Finanzgericht (FG) gab dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung im vollen Umfange statt. Zur Begründung verwies es auf die Entscheidungen des FG Düsseldorf, Senate in Köln, vom 20. Dezember 1976 VIII 115/76 S (Entscheidungen der Finanzgerichte 1977 S. 179 - EFG 1977, 179 -) und vom 6. Juli 1977 VII 220/77 AE (EFG 1977, 543), des Niedersächsischen FG vom 13. Januar 1977 VII 183/76 (EFG 1977, 180) und vom 26. Januar 1977 VIII 87/76 (EFG 1977, 375) und des FG Rheinland-Pfalz vom 28. April 1977 III 4a/77 (EFG 1977, 384), die mit der überwiegenden Meinung der Fachliteratur übereinstimmten (Hinweis auf Pelka, Steuer und Wirtschaft 1977, S. 334 - StuW 1977, 344-). Der vom Bundesfinanzhof (BFH) im Beschluß vom 1. August 1973 I B 29/73 (BFHE 110, 177, BStBl II 1973, 854) vertretenen Ansicht könne es sich nicht anschließen.

Mit der wegen Abweichung von der Rechtsprechung des BFH zugelassenen Beschwerde macht das FA geltend, daß eine Aussetzung der Vollziehung nicht in Betracht komme, da die geänderten Steuerbescheide Rechtens seien. Es entspreche der ständigen Rechtsprechung des BFH, daß der Erlaß eines Folgebescheides vor der Erteilung eines Grundlagenbescheides nicht gegen die Vorschriften des § 180 Abs. 1 Nr. 2a der Abgabenordnung (AO 1977) verstoße (Hinweis auf BFH-Beschluß vom 29. Juli 1976 VIII B 6/75, BFHE 120, 9, BStBl II 1977, 119). Auch der Ansatz eines Verlustes mit null DM berühre die Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheides nicht. Das Wohnsitz-FA sei nicht befugt, Einkünfte, die durch einheitliche und gesonderte Feststellung ermittelt würden, mangels fehlender Mitteilungen selbst festzustellen und der Einkommensteuerveranlagung zugrunde zu legen (§ 182 Abs. 1 AO 1977). Dies würde dem eigentlichen Feststellungsverfahren vorgreifen.

Das FA beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und den Antrag des Antragstellers zurückzuweisen, soweit mit ihm eine Aussetzung der Vollziehung begehrt wird, die über die am 20. März 1978 bewilligte hinausgehe. Wegen der nunmehr ausgesetzten Beträge würde das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt.

Der Antragsteller widerspricht den Ausführungen des FA. Er beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen und den Antragsteller von Verfahrenskosten freizustellen. Soweit das FA die Hauptsache für erledigt erklärt habe, schließe er sich dem an.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde des FA ist nicht begründet. Mit dem FG ist, wenn auch aus anderen Gründen, davon auszugehen, daß ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide für 1972 bis 1975 bestehen (§ 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Der Senat kann offenlassen, ob er an seiner Meinung im Beschluß in BFHE 120, 9, BStBl II 1977, 119, der sich die FG überwiegend angeschlossen haben und die auch im Schrifttum überwiegend geteilt wird (vgl. die o. a. Hinweise), festhalten oder ob er die Meinung im Beschluß des I. Senats des BFH in BFHE 110, 177, BStBl II 1973, 854 teilen würde. Er kann weiter offenlassen, ob er sich der neuerdings im Urteil des I. Senats vom 17. Mai 1978 I R 50/77 (BFHE 125, 423, BStBl II 1978, 579) oder der hierzu in einem gewissen Widerspruch stehenden Ansicht des IV. Senats im Beschluß vom 19. Oktober 1978 IV B 34/77 (BFHE 125, 510, BStBl II 1978, 632) anschließen würde. § 155 Abs. 2, § 162 Abs. 3 AO 1977 i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980 (BGBl I 1980, 1545, BStBl I 1980, 589) schreiben nunmehr vor, daß ein Steuerbescheid erteilt werden kann, auch wenn ein Grundlagenbescheid noch nicht erlassen wurde und daß in diesem Fall die in einem Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden können.

Diese Änderung auf dem Gebiete des Verwaltungsverfahrensrechtes, die die Verwaltung im Falle einer Aufhebung der Verwaltungsentscheidung und Fortführung des Verfahrens nach neuem Recht zu beachten hätte, sind auch in einem anhängigen Gerichtsverfahren zu berücksichtigen. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 8. Februar 1977 VIII R 50/74 (BFHE 121, 379, BStBl II 1977, 516) ausgesprochen hat, entspricht dies dem Grundsatz, daß neues Verfahrensrecht auch für schwebende Verfahren gilt, soweit nicht ausdrücklich etwas anderes vorgeschrieben ist, und dem Grundsatz der Prozeßökonomie. Diese Ansicht entspricht weiter auch der neueren Richtung in der Rechtsprechung, für die Frage, ob ein Urteil auf einer Rechtsverletzung beruht, nicht auf eine fehlerhafte Beurteilung durch das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung abzustellen, sondern darauf, ob das Urteil im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichtes mit dem Gesetz objektiv im Einklang steht (BFHE 121, 379, BStBl II 1977, 516, mit weiteren Hinweisen).

2. Wendet man diese Grundsätze an, so erweist sich die angefochtene Entscheidung im Ergebnis auch nach neuem Recht als zutreffend.

a) Das FG hat es als möglich erachtet, daß der Folgebescheid bereits vor Erlaß des Grundlagenbescheides ergehen kann. Diese Rechtsmeinung findet nunmehr in § 155 Abs. 2 AO 1977 eine Stütze. Daher können unter diesem Blickwinkel keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Einkommensteuerbescheide hergeleitet werden.

b) Das FG hat gleichwohl ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bejaht, weil das FA (Wohnsitz FA) keine Entscheidungskompetenz für einen Ansatz der Verlustanteile in Höhe von null DM gehabt habe. Diese Ansicht des FG ist dadurch überholt, daß nach § 162 Abs. 3 AO 1977 das Wohnsitz FA, das nach § 155 Abs. 2 AO 1977 den Folgebescheid vor dem Grundlagenbescheid erlassen will, die durch den

Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen schätzen kann. Der Wortlaut des § 162 Abs. 3 AO 1977 bedeutet nicht, daß es das FA in der Hand hat, ob es in dem Einkommensteuerbescheid die in einem Grundlagenbescheid festzustellenden Besteuerungsgrundlagen überhaupt ansetzt. Will das FA den Einkommensteuerbescheid vor Ergehen des Grundlagenbescheides erlassen, so muß es diese Besteuerungsgrundlagen berücksichtigen. Denn § 25 EStG gebietet den Ansatz aller im Veranlagungszeitraum angefallenen Einkünfte. Dies folgt auch aus dem Untersuchungsgrundsatz des § 88 Abs. 2 AO 1977, wonach die Finanzbehörde alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen hat.

c) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen aber deshalb, weil das FA diese Bescheide erlassen hat, ohne selbst zu prüfen, ob die erklärten Verlustanteile des Antragstellers dem Grunde und der Höhe nach anzusetzen sind. Die Tatsache, daß das Betriebs-FA die Verlustanteile noch nicht festgestellt hat, ist nach § 155 Abs. 2, § 162 Abs. 3 AO 1977 i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Körperschaftsteuergesetzes und anderer Gesetze vom 20. August 1980 kein ausreichender Grund mehr, die Verlustanteile im Einkommensteuerbescheid nicht zu berücksichtigen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 425973

BStBl II 1981, 416

BFHE 1981, 402

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