I. Die Parteien streiten um die Haftung für die Folgen eines Verkehrsunfalls, der sich am 30.7.2019 gegen 15:15 Uhr auf der Straße M. (L. 430) in der Nähe von O. im Bereich der Einmündung der Straße K. ereignet hat. Die Klägerin befuhr die Straße M. mit ihrem Fahrrad aus Richtung P. kommend, die Beklagte zu 1) befuhr die Straße mit ihrem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw Seat in gleicher Richtung. Der Unfallhergang ist im Einzelnen streitig.
Die Straße M. ist 5 m breit und verfügt über keinen Mittelstreifen und keine befestigten Seitenstreifen. An der Unfallstelle gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h. Als die Beklagte zu 1) sich der Klägerin von hinten näherte, blickte diese sich um und es entstand Blickkontakt zwischen den Beteiligten. Kurz darauf, vor der Einmündung der Straße K., setzte die Beklagte zu 1) mit ihrem Fahrzeug zum Überholen der Klägerin an. Die Klägerin leitete etwa zeitgleich das Abbiegen nach links in die Straße K. ein. Es kam zur Kollision, bei der die Klägerin stürzte und sich erheblich verletzte. Das Fahrzeug der Beklagten zu 1) wurde vorne rechts beschädigt.
Die Klägerin hat zunächst behauptet, keine Erinnerung mehr an den Unfallhergang zu haben. Als erfahrene Radfahrerin leite sie jedoch keinen Abbiegevorgang ohne vorherigen Schulterblick und entsprechendes Handzeichen ein. Später – nach dem ersten Verhandlungstermin vor dem Landgericht – hat sie behauptet, aufgrund eines anderen Vorfalls könne sie sich nunmehr wieder an den Unfall erinnern, namentlich daran, dass sie nach dem Blickkontakt ein Handzeichen gegeben und begonnen habe, sich nach links zur Fahrbahnmitte hin einzuordnen. Sie sei sich nach dem Blickkontakt sicher gewesen, dass die Beklagte zu 1) ihre Abbiegeabsicht erkannt habe.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 1.637,39 EUR nebst 5 %-punkten Zinsen über Basiszinssatz seit dem 9.1.2020 zu bezahlen;
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 EUR zu bezahlen;
3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr sämtliche Schäden, die ihr in Zukunft aus dem Verkehrsunfall vom 30.7.2019 auf der L. 430, in Höhe M … entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Die Beklagten beantragen, die Klage abzuweisen.
Die Beklagten haben behauptet, die Klägerin habe weder ein Handzeichen gegeben, noch sich nach links eingeordnet. Die Beklagte zu 1) habe bereits zuvor die Geschwindigkeit auf etwa 50 km/h reduziert. Nach dem Blickkontakt habe die Beklagte zu 1) unter Setzen des Fahrtrichtungsanzeigers zum Überholen angesetzt. Hierbei sei sie ganz links auf der Fahrbahn gefahren. Die Klägerin sei unvermittelt nach links abgebogen, als die Beklagte zu 1) sich mit ihrem Fahrzeug bereits neben der Klägerin befunden habe. Der Unfall sei für die Beklagte zu 1) unvermeidbar gewesen.
Das Landgericht hat die Parteien persönlich angehört und ein Unfallrekonstruktionsgutachten eines Sachverständigen eingeholt. Es hat sodann die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin habe gegen die Beklagten keinen Anspruch aus §§ 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG. Auf Grund eines hundertprozentigen Mitverschuldens der Klägerin sei die Haftung der Beklagten gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB auf Null gemindert. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin ihre Pflichten aus § 9 Abs. 1 S. 1, 2 und 4 StVO verletzt habe, indem sie vor dem Abbiegen weder ein Handzeichen gegeben, noch sich zur Mitte der Fahrbahn hin eingeordnet, noch doppelte Rückschau gehalten habe. Darüber hinaus habe sie die Kurve geschnitten und damit das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 Abs. 2 StVO verletzt. Dies ergebe sich bereits aus den örtlichen Verhältnissen, nach denen ein Überholen durch die Beklagte zu 1) bei korrektem Verhalten der Klägerin so offensichtlich unmöglich gefahrlos möglich gewesen wäre, dass nicht anzunehmen sei, dass die Beklagte zu 1) dennoch zum Überholen angesetzt hätte. Ein derart rücksichtsloses Verhalten sei vorliegend nicht anzunehmen, zumal der Sachverständige eine Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von lediglich 33-46 km/h ermittelt habe. Dies werde gestützt durch die glaubhaften Angaben der Beklagten zu 1) und den im Rahmen der persönlichen Anhörung von ihr gewonnenen Eindruck. Die Angaben der Klägerin zu ihren – erst nach Hinweis des Landgerichts zu ihrem überwiegenden Mitverschulden – wiedererlangten Erinnerungen seien demgegenüber unglaubhaft. Auch nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen sei nicht von einem Einordnen der Klägerin nach links auszugehen, denn die objektive Spurenlage spreche für eine Kollision etwa in der Fahrbahnmitte in einem fortgeschrittenen Abbiegevorgang der Klägerin. Bei doppelter Rückschau hätte die Klägerin zudem sehen müssen, dass sich das Fahrzeug bereits im Überholvorgang befunden habe. Dies ergebe sich ...