Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Vorliegen einer Krankheit iS von § 27 Abs 1 S 1. kein Anspruch auf eine prophylaktische Mastektomie bei familiärer Belastung und fehlendem Nachweis einer Genmutation
Leitsatz (amtlich)
1. Bei wertender Betrachtung kann eine Krankheit im Sinne von § 27 Abs 1 S 1 SGB V bereits dann vorliegen, wenn, basierend auf Fakten, künftig eine schwerwiegende Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Erkrankungsrisiko), wobei die jeweiligen Chancen bei frühzeitiger Behandlung gut sind, der zu erwartende Schaden bei nicht frühzeitig, also nicht präventiv behandeltem Krankheitsverlauf dagegen dauerhaft und schwer ist.
2. Bei fehlendem Nachweis einer pathologischen Genmutation trotz molekular-genetischer Testung stellt allein eine familiäre Häufung von Mammakarzinomen und das damit verbundene (abstrakte) Erkrankungsrisiko grundsätzlich keine Indikation für eine prophylaktische Mastektomie und damit auch keine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne von § 27 Abs 1 S 1 SGB V dar.
Orientierungssatz
Es besteht kein Anspruch auf eine prophylaktische Mastektomie im Rahmen einer medizinischen Vorsorgeleistung nach § 23 Abs 1 Nr 3 SGB 5. Auch ein grundrechtsorientierter Leistungsanspruch unter den Voraussetzungen des § 2 Abs 1a SGB 5 kommt nicht in Betracht.
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 10.07.2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine beidseitige prophylaktische Mastektomie (Brustamputation) mit Brustsofortrekonstruktion als Sachleistung.
Die 1986 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Ihre Großmutter erkrankte im Alter von ca. 30 Jahren an Brustkrebs, ihre Mutter im Alter von ca. 39 Jahren. Beide sind daran verstorben. Im Jahr 2016 erkrankte zudem eine Tante mütterlicherseits an Brustkrebs. Auch sie ist inzwischen verstorben.
Aufgrund der familiären Vorbelastung wurde die Klägerin im Jahr 2010 im Universitätsklinikum W-Stadt humangenetisch beraten. Das Ergebnis dieser genetischen Beratung fasste das Zentrum für familiären Brust- und Eierstockkrebs, Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum W-Stadt, mit Schreiben vom 06.05.2010 wie folgt zusammen:
Etwa jede 9.-10. Frau erkranke im Laufe ihres Lebens an einem bösartigen Brusttumor (Mammakarzinom). Man unterscheide nicht erbliche von erblichen (familiären) Erkrankungen, wobei die nicht erbliche Form sehr viel häufiger sei als die erbliche. Bei Patientinnen mit einer erblichen Form des Brustkrebses finde man zwar im Durchschnitt einen frühen Erkrankungsbeginn und ein beidseitiges Auftreten des Tumors, der stärkste Hinweis auf das Vorliegen einer erblichen Form werde jedoch durch das Vorhandensein von weiteren Erkrankungsfällen in der Familie gegeben. Das Auftreten mehrerer Erkrankungsfälle von Brust- bzw. Eierstockkrebs in einer Familie sei aber nicht beweisend für das Vorliegen einer erblichen Form, da bei der Häufigkeit dieser Krebsarten in der Allgemeinbevölkerung mehrere Erkrankungsfälle in einer Familie auch zufällig auftreten können.
Der erbliche Brust- und Eierstockkrebs werde autosomal-dominant vererbt. Das Risiko, die für die Erkrankung verantwortliche Erbanlage von einem Elternteil zu erhalten, belaufe sich auf 50 %. Bisher seien zwei Erbanlagen (Gene) bekannt, deren Veränderungen (Mutationen) insgesamt für die Hälfte der Fälle von familiärem Brust- und Eierstockkrebs verantwortlich seien: das BRCA1-Gen auf Chromosom 17 und das BRCA2-Gen auf Chromosom 13. Bei den restlichen Fällen liege vermutlich eine Mutation in weiteren, noch unbekannten Genen vor. Gelinge in der Genanalyse der Nachweis einer Mutation bei einer betroffenen Person, könne damit eindeutig die Diagnose der Erblichkeit des Brustkrebses gestellt werden. Mit dem Nachweis der Mutation bei einer Betroffenen sei es auch möglich, Familienangehörige auf das Vorliegen der Mutation zu testen, bevor überhaupt erste klinische Symptome beobachtet würden. Sollte bei einer weiblichen Angehörigen im Rahmen einer solchen präsymptomatischen Diagnostik das Vorliegen der Mutation nachgewiesen werden, bestehe für sie ein Risiko von ca. 60-80 %, im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs, und ein Risiko von ca. 20-50 %, im Laufe ihres Lebens an Eierstockkrebs zu erkranken. Familienangehörige, die eine in ihrer Familie vorkommende Mutation nicht besäßen, hätten gegenüber der Allgemeinbevölkerung kein erhöhtes Risiko für Brust- oder Eierstockkrebs. Lasse sich in der Genanalyse bei einer betroffenen Person keine Mutation nachweisen, sei damit jedoch die Diagnose eines familiären Brustkrebses nicht ausgeschlossen, da in vielen Fällen eine Mutation derzeit noch nicht nachweisbar sei.
Bezogen auf die Situation der Klägerin bedeute dies zusammenfassend: Aufgrund der Daten großer Familienuntersuchungen bestehe für die Klägerin, ohne dass man eine molekulargenetische Diagnostik durchgefü...