Eine konstruktive Fehlerkultur etablieren

"Bei mir darf man schon Fehler machen – aber nur einmal". Kennen Sie diese Aussage oder spiegelt sie Ihre Meinung wider? Dass Fehler nur einmal gemacht werden, ist eher unwahrscheinlich. Um Fehler zu reduzieren und diese als Lernchance zu nutzen, braucht es ein feines Gespür für Menschen und Kontexte - die Voraussetzungen für eine konstruktive Fehlerkultur.

Der US-amerikanische Fahrdienstleiter Lyft, Konkurrent von Uber, veröffentlichte vor Kurzem Quartalszahlen. Diese fielen deutlich besser aus als erwartet. Zudem kommunizierte das Unternehmen die Prognose, dass sich die bereinigte Gewinnmarge im laufenden Jahr um 500 Basispunkte verbessern werde. Dies bedeutete nichts weniger als eine Sensation, die den Börsenkurs binnen weniger Minuten geradezu explodieren ließ. Allerdings musste Finanzchefin Erin Brewer eine halbe Stunde nach Veröffentlichung der Zahlen zurückrudern und zugeben, dass man sich um eine Null vertan habe - ein Schreibfehler. Gemeint waren 50, nicht 500 Basispunkte. Prompt stürzte der Aktienkurs wieder ab.

Ein kleiner Fehler mit großen Folgen bei Lyft

Soweit die Fakten. Was wir nicht wissen, ist, wer diesen Fehler (eine Null zu viel) verursacht hatte und wie intern bei Lyft mit diesem Fehler umgegangen wurde. Wurden Vorwürfe erhoben? Musste die Person sich rechtfertigen? Vielleicht vor einem größeren Gremium? Muss sie Konsequenzen für ihre weitere Karriere oder zumindest für ihre Reputation befürchten? All dies ist unserer Erfahrung nach zumindest nicht unwahrscheinlich. Zudem lässt sich nach dem Kontext fragen: Haben zum Beispiel Korrektur- oder Qualitätsmechanismen gefehlt oder versagt, die den Fehler rechtzeitig sichtbar gemacht hätten?

Die innere Einstellung zu Fehlern

Wenn es darum geht, eine konstruktive Fehlerkultur zu etablieren, hilft es zu verstehen, was bei Fehlern in unserem Gehirn vorgeht. Die bisher beste Schilderung dazu haben wir in dem Buch "The Responsibility Process" von Christopher Avery gefunden. Avery beschreibt sechs typische geistige Zustände (beziehungsweise innere Einstellungen), die wir im Zusammenhang mit auftauchenden Problemen oder Fehlern einnehmen.

All diese Zustände sind ein natürlicher Teil von uns. Damit wir zur Verantwortung gelangen, müssen meist alle vorhergehenden Zustände durchlebt werden. Das Problem: Häufig schaffen wir es nicht, bis in die Verantwortung zu kommen, sondern verharren in einem der vorangehenden Zustände – weshalb wir stagnieren oder scheitern. Daher ist es wichtig, alle Zustände bis zur Verantwortung so schnell wie möglich zu durchleben. Oft genug benötigen wir dabei ein diesen Prozess begünstigendes Umfeld und die Unterstützung anderer Personen – insbesondere unserer Führungskraft.

Die sechs durchlebten Zustände bei Fehlern:

  1. Leugnen: In diesem Zustand wird die Existenz eines Fehlers geleugnet. Der Weg aus diesem Zustand ist es, Fehler als solche zu erkennen beziehungsweise zuerst anzuerkennen.
  2. Beschuldigen: Wird ein Fehler (von uns selbst oder von anderen) erkannt und adressiert, neigen wir dazu, die Schuld und Verantwortung auf andere zu schieben. Aus diesem Zustand kommen wir heraus, indem wir uns bewusst dafür entscheiden, die Suche nach vermeintlich Schuldigen abzubrechen.
  3. Rechtfertigen: Haben wir aufgehört, nach Schuldigen zu suchen, beginnt häufig die Suche nach Gründen (oder auch Ausreden), um einen Fehler zu rechtfertigen. Diesen Zustand können wir verlassen, indem wir zu uns ehrlich sind, unsere Erklärungsmuster (und Ausreden) als solche erkennen und anfangen, unseren eigenen Beitrag zu dem Fehler anzuerkennen und zu verstehen.
  4. Schämen: Haben wir unseren eigenen Beitrag zum Fehler erkannt, fühlen wir uns meist schuldig, ungenügend und unzulänglich. Von der Scham lösen wir uns, indem wir akzeptieren, dass Scham eine natürliche Reaktion ist, die uns eine Entwicklungschance anzeigt. Wenn wir diese Möglichkeit erkennen, können wir die Scham leichter überwinden.
  5. Verpflichtung: Nach der Scham kommt meist ein Pflichtgefühl, etwas unternehmen zu müssen. Der Weg aus der Verpflichtung heraus in die Verantwortung besteht darin zu erkennen, dass wir selbst die Wahl haben – und uns bewusst dafür entscheiden, die Verantwortung für einen Fehler zu übernehmen.
  6. Verantwortung: In diesem Zustand haben wir die Verantwortung für unsere Handlungen, Entscheidungen und Fehler voll übernommen. Erst von hier aus sind wir in der Lage, konstruktive Schritte zu unternehmen, um aus dem Fehler tatsächlich zu lernen und die Situation nachhaltig zu verbessern.

Fehler emotional verarbeiten

Der Scham kommt bei der emotionalen Verarbeitung von Fehlern eine Schlüsselrolle zu. Viele Führungskräfte sind sich nicht bewusst, wie schambesetzt Fehler von Mitarbeitenden erlebt werden – auch ohne explizite Anklage oder ausgeübten Rechtfertigungsdruck. Kommen diese jedoch noch hinzu, dann erleben Mitarbeitende dies als nachhaltige Beschädigung.

Für eine konstruktive Fehlerkultur ist also entscheidend, dass Führungskräfte ein Gespür für die innere Not haben. Die betreffende Person braucht dann Empathie und Rückhalt und sehr oft nicht noch Druck von außen. Scham lässt sich beschreiben als die Diskrepanz zwischen der Person, von der wir glauben, sie sein zu müssen oder sein zu können, sowie der Person, von der wir denken, dass wir sie sind. Die Person, von der wir denken, dass wir sie sind, fällt häufig – und zwar ganz besonders dann, wenn wir Fehler machen – von dem Anspruch ab, den wir an uns richten. Wenn wir Dinge nicht hinbekommen, erleben wir dies als einen unmittelbaren Angriff auf unsere Identität. Wir haben das Gefühl, nicht zu genügen. Die Scham erleben wir als sehr negativ und schmerzhaft.

Scham ist jedoch auch ein hilfreicher Marker, der uns auf diese Diskrepanz aufmerksam machen kann (siehe auch: Lea Schneider, Scham, 2021). Wenn wir uns darauf einlassen, eröffnet sich uns eine Entscheidungsalternative: Will ich weiter in dieser Diskrepanz und damit in der Beschämung leben oder bestehen Möglichkeiten, auf ein anderes Bild von mir zuzugehen? Einerseits können wir uns also bemühen, die Person zu werden, die wir sein wollen, oder wir schließen andererseits unseren Frieden damit, wie wir zum aktuellen Zeitpunkt sind.

Sechs Ansatzpunkte für eine konstruktive Fehlerkultur

Führungskräfte haben dabei die Aufgabe, ein Klima und Umfeld zu schaffen, in welchem dieses Durchleben für Mitarbeitende möglich und leicht ist. Unabdingbar ist dabei, dass Führungskräfte dies im Umgang mit eigenen Fehlern glaubwürdig und für alle sichtbar vorleben. Somit kommt ganz entscheidend das ins Spiel, was wir Team-, Abteilungs- oder Unternehmenskultur bezeichnen. Entscheidend ist, dass Mitarbeitende sich durch das Eingestehen von Fehlern nicht beschädigt fühlen und in ihrem unmittelbaren Umfeld ein Gefühl von Sicherheit erleben.

Was braucht es dafür konkret bezogen auf die obigen sechs Zustände?

  1. Aufrichtigkeit, radikale Ehrlichkeit und eine Feedbackkultur, in der Fehler offen angesprochen werden können: Beschreibend, nicht bewertend. Sowie eine hohe Bereitschaft, Kontexte zu berücksichtigen und den eigentlichen Fehler von seinen Auswirkungen zu trennen. Dieselbe Handlung kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Nicht jede fehlende Null führt sofort zu Turbulenzen am Aktienmarkt.
  2. Klare Spielregeln, die Schuldzuweisungen jeglicher Art sanktionieren. Die Suche nach Schuldigen oder Sündenböcken muss sofort unterbunden werden.
  3. Eine Form der Kommunikation (bilateral und im Team), die weniger nach dem "Warum" fragt und damit Rechtfertigungsreflexe provoziert, sondern vielmehr danach fragt, was wir gemeinsam aus dem Fehler lernen können. Die Frage nach dem "Warum" sollte ersetzt werden durch die Frage: Wie lässt sich der Fehler künftig vermeiden? Und wer kann dafür etwas tun? Nicht immer ist das der- oder diejenige, der/die für den Fehler verantwortlich ist.
  4. Ein Bewusstsein dafür, wie schmerzhaft Scham erlebt wird, und damit einhergehend die Bereitschaft, der Person, der der Fehler unterlaufen ist, unbedingten Rückhalt zu gewähren und sie in dieser Phase zu stärken, also ein gemeinsames Einstehen für den Fehler und gemeinsame Verwundbarkeit. Dieser Aspekt müsste integraler Bestandteil von Führungstrainings werden.
  5. Handlungsorientierung, um schnell wieder ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung zu erleben.
  6. Die Erfahrung, dass die Übernahme von Verantwortung vom Umfeld und den Vorgesetzten ausdrücklich belohnt und aufrichtig anerkannt wird ("Ich bin froh, dass Du den Fehler gemeldet hast").

Eine reife Fehlerkultur ermöglicht nachhaltige Weiterentwicklung

Wer auch immer aufgrund der Panne bei Lyft nun im Fokus steht oder sich im Fokus fühlt: Wenn diese im Kontext einer reifen Fehlerkultur bearbeitet wird, besteht eine sehr gute Chance für eine nachhaltige Weiterentwicklung.


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