Harald Schirmer zur Deskless Workforce bei Continental

Rund 45.000 Menschen arbeiten für den Automobil­zulieferer Continental in Deutschland. Die Hälfte davon zählt zur Deskless Workforce. Wie schafft es das Unternehmen, eine Zwei­klassen­gesellschaft zwischen denjenigen, die immer vor Ort sein müssen, und denen, die beliebig zwischen Büro oder Homeoffice wechseln können, zu vermeiden? Ein Gespräch mit Harald Schirmer, einem der beiden Projektverantwortlichen für "Future Work".

Personalmagazin: Herr Schirmer, Sie arbeiten bereits seit mehr als zwanzig Jahren aus dem Homeoffice. Wie oft sprechen Sie mit Kolleginnen und Kollegen, die diese Möglichkeit nicht haben?

Harald Schirmer: Fast täglich. Zuletzt gestern.

Personalmagazin: Inwiefern lässt sich die Arbeitsrealität von Beschäftigten beispielsweise in der Produktion aus dem Homeoffice heraus nachvollziehen? 

Schirmer: Die Frage ist mir zu plakativ. Natürlich sitze ich nicht ausschließlich im Homeoffice, sondern besuche auch regelmäßig unsere zahlreichen Standorte. Natürlich kann ich so nicht die Situation aller Beschäftigten beurteilen. Dafür nutze ich unsere digitalen Kanäle. Hier kann ich mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jederzeit und überall ins Gespräch kommen.

Standort- und funktionsübergreifender Austausch

Personalmagazin: Auf dem Business-Netzwerk Linkedin folgen Ihnen rund 13.000 Nutzerinnen und Nutzer. Wie groß ist Ihr Netzwerk im Unternehmen?

Schirmer: Ich denke, dass ich zu den Personen mit dem größten digitalen Netzwerk im Unternehmen zähle. Wir haben zudem ein sogenanntes Guide-Netzwerk entwickelt und die Rolle des Knowledge-Broker etabliert. Dazu zähle auch ich. Im Kern sind das Personen, die sich standort- und funktionsübergreifend mit Menschen im Unternehmen austauschen, um mehr über deren Situation und Bedürfnisse zu erfahren. 

Personalmagazin: Dennoch steht HR zunehmend in der Kritik, die Bedürfnisse der Deskless Workforce zu übersehen. So profitierten beispielsweise vornehmlich Wissensarbeitende von den verschiedenen Flexibilisierungsmöglichkeiten, die häufig unter dem Sammelbegriff New Work angeboten werden. 

Schirmer: Mit dem Begriff der "Deskless Workforce" tue ich mich schwer. Genau genommen würden dazu ebenso die Kolleginnen und Kollegen im Vertriebsaußendienst zählen wie die in einem Reinraum der Elektronikfertigung oder an einer Maschine in der Reifenproduktion. Ihre Arbeitssituationen lassen sich jedoch kaum miteinander vergleichen. Ebenso unterschiedlich sind deren Bedürfnisse. Daher denke ich, dass wir unsere Belegschaft sehr viel differenzierter betrachten müssen als die Unterscheidung in "Büro, kein Büro".  

Drei Kernbedürfnisse: Transparenz, Flexibilität und Teilhabe

Personalmagazin: Das Projekt "Future Work & Flexibility 2.0", das Sie verantworten, richtet sich an alle Beschäftigten. Wie finden Sie da einen gemeinsamen Nenner?

Schirmer: Wir setzen einen Stufe darüber an, beim Thema Kultur, genauer gesagt bei unseren Werten. Die lauten Vertrauen, Verbundenheit, Freiheit und Gewinnermentalität und sind das Ergebnis von unternehmensweiten Werte-Workshops, die wir 2012 durchgeführt haben. Wir fragen uns also: Was brauchen unsere Beschäftigten, um diese Werte zum Leben zu erwecken? Flexibilität und Future Work umfassen eine Reihe von Maßnahmen, die das ermöglichen sollen. Im Kern geht es aber um drei Bedürfnisse: Transparenz, Flexibilität und Teilhabe.

Personalmagazin: Die Ausgestaltung der Maßnahmen kann aber sehr unterschiedlich ausfallen.

Schirmer: Stimmt. Wir verfolgen einen Best-Fit-Ansatz, der auf einem Baukasten an Einzelmaßnahmen beruht. Das heißt, wir schauen, welche Maßnahmen für die Beschäftigten, ihren Arbeitsplatz und das Business am besten funktionieren. Diese drei Faktoren gilt es zu berücksichtigen und in Balance zu bringen. Das ist ein Prozess, bei dem wir fortlaufend dazulernen.

Personalmagazin: Stichwort "Dazulernen". Ihr Unternehmen hat sich bereits 2016 in einer globalen Beteiligungskampagne dem Thema Flexibilität gewidmet. Daraus entstand eine Konzernbetriebsvereinbarung. Welche Angebote von damals würden Sie heute nicht mehr machen?

Schirmer: Die Betriebsvereinbarung beinhaltet viele klassische Flexibilitätsmodelle von Teilzeit über Flex-Zeit bis hin zum Sabbatical. Viele Kolleginnen und Kollegen nutzen das seither. Wir mussten allerdings auch feststellen, dass manche Angebote wie beispielsweise das Sabbatical für Beschäftigte mit geringerem Einkommen häufig schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht infrage kommen. Das dann als große Errungenschaft zu verkaufen, wäre lebensfremd. 

Personalmagazin: Nehmen wir das Beispiel eines Mitarbeitenden in der Produktion. Welche Flexibilisierungsangebote würden dessen Bedürfnissen gerecht?

Schirmer: Der häufigste Fall ist sicherlich die Schichtplanung. Hier haben wir eine Reihe von Flexibilitätsoptionen entwickelt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Person muss kurzfristig zum Arzt, ein krankes Kind betreuen oder Angehörige pflegen. Im klassischen Setting gäbe es zwei Optionen: einen Tag Urlaub einreichen oder sich krankmelden. Also haben wir unsere Schichtplanung in Stunden unterteilt. So besteht die Möglichkeit, auch eine, zwei oder drei Stunden zu fehlen und nicht gleich einen ganzen Tag. Noch vor einigen Jahren wäre das nicht denkbar gewesen …

Personalmagazin: Weil dann die Maschine stillgestanden hätte?

Schirmer: Genau. Heute können wir das in unserer Personaleinsatzplanung berücksichtigen, längere und kürzere Schichten anbieten oder entsprechende Überkapazitäten vorhalten, die solche Flexibilität ermöglichen. 

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Personalmagazin: Sind Ihre Mitarbeitenden im Schichtbetrieb seither zufriedener?

Schirmer: Sie schätzen die Flexibilisierungsmöglichkeiten. Und es gibt Anzeichen, dass die Qualität seither definitiv nicht schlechter geworden und teilweise sogar gestiegen ist. In der Deskless Workforce, also dem, was wir als Blue Collar bezeichnen, ist die Zahl der Krankheitstage trotz Pandemie deutlich gesunken. Ich werte das als positives Signal. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter merken, dass wir etwas für sie tun, und sind dann auch eher bereit, sich mehr einzubringen. Ich denke, dass die Arbeitsflexibilität großen Einfluss auf das Autonomie-Empfinden von Menschen hat. 

Kommunikation, die wirklich alle erreicht

Personalmagazin: Wie lässt sich dieses Autonomie-Empfinden stärken?

Schirmer: Durch Wertschätzung. Ganz entscheidend dafür ist aus meiner Sicht, Menschen einzubinden. Dafür brauchen wir eine Kommunikation, die wirklich alle erreicht und sowohl die übergreifenden als auch die persönlichen Themen adressiert. Wer am Rechner sitzt, kann sich mal eben im internen sozialen Netzwerk informieren – am Fließband geht das nicht. Also haben wir eine App eingeführt, die man auch auf privaten Endgeräten nutzen kann. Das Gefühl zu haben zu wissen, was läuft, mitdiskutieren und sich einbringen zu können, ist sehr viel wert.

Personalmagazin: Erfahren Sie auf diesem Weg auch, was aus Sicht der ­Deskless Workforce weniger gut läuft?

Schirmer: Ja, auch. Über den digitalen Kommunikationsweg erhalten wir viel schneller und häufiger Feedback, allerdings ebenso im positiven Sinne. Beispielsweise als wir gefragt haben, wer am "Future-Work-Flexibility-Projekt" mitarbeiten möchte. Innerhalb einer Woche haben sich vierzig Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Standorten weltweit gemeldet, darunter ein Schichtleiter, eine Sales-Managerin, ein Controller und eine Produktionsmitarbeiterin. 

Personalmagazin: Das interne soziale Netzwerk scheint ein zentraler Baustein Ihrer Beteiligungsstrategie zu sein?

Schirmer: Absolut. Wissensaustausch, Information, Feedback, Innovation, das alles findet in unserem unternehmenseigenen sozialen Netzwerk statt. Wir haben uns damit auf eine Social-Learning-Reise begeben.

Personalmagazin: Innovationen entstehen also in Ihrem Social Network? Das müssen Sie bitte erklären.

Schirmer: Innerhalb des Netzwerks sind verschiedene Kanäle entstanden, über die unsere Beschäftigten Ideen und Verbesserungsvorschläge einbringen können. Damit haben wir den Austausch über Ideen und Gelerntes ein Stück weit demokratisiert und können verhindern, dass gute Ideen, die auf dem klassischen hierarchischen Weg möglicherweise verloren gingen, ankommen. 

Personalmagazin: Wird diese Möglichkeit, Ideen einzubringen und sich zu beteiligen, auch genutzt?

Schirmer: Ja. Wir haben sogar eigens eine Kampagne dafür entwickelt. Sie heißt "Ownership" und ermutigt die Kolleginnen und Kollegen, Verantwortung für ein Projekt oder eine eigene Idee zu übernehmen. Das ist sicherlich ein zusätzlicher Anreiz. Wobei – so ehrlich sollten wir sein – das Engagement immer auch ein Stück weit am Eigenantrieb der einzelnen Person hängt. Darauf haben wir nur begrenzten Einfluss.

Hybridlösungen als Kompromiss ansehen

Personalmagazin: Neben der Teilhabe ist das ortsunabhängige Arbeiten ein wesentlicher Bestandteil vieler New-Work-Ansätze in Unternehmen. Auch in Ihrem Unternehmen können Mitarbeitende in hohem Umfang mobil arbeiten. Gehen wir vom Extremfall aus: fünf Tage Homeoffice versus fünf Tage Schichtbetrieb. Entsteht ohne persönliche Begegnung nicht eine Kluft im Unternehmen?

Schirmer: Nein. Eine Spaltung passiert, wenn wir zwei Gruppen vonei­nander trennen oder sie unterschiedlich behandeln. Das tun wir nicht. Denn wir versuchen, natürlich unter Berücksichtigung der betrieblichen Notwendigkeiten, allen die gleichen Möglichkeiten zu bieten. In der Ausgestaltung gibt es trotzdem Unterschiede. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass durch virtuelle Vernetzungsmöglichkeiten der Austausch sogar einfacher geworden ist.

"Eine Spaltung passiert nur dann, wenn wir zwei Gruppen voneinander trennen oder unterschiedlich behandeln. Das tun wir nicht." - Harald Schirmer, Continental


Personalmagazin: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Schirmer: Wir haben ein Tool namens "Virtual Coffee Break" entwickelt, eine App, in der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eintragen können, wann sie Zeit für einen kurzen Austausch haben. Wer möchte, kann auf diese Weise Kolleginnen und Kollegen aus allen Gewerken weltweit kennenlernen.

Personalmagazin: Trotzdem gibt es Kritiker, die behaupten, dass eine Unternehmenskultur nicht dauerhaft virtuell gelebt werden kann. Würden Sie denen widersprechen?

Schirmer: Auf jeden Fall. Wir sind alle physische Wesen und deshalb ist auch die physische Begegnung weiterhin am wertvollsten. Trotzdem reden wir hier nicht von schwarz oder weiß. Hybridlösungen sind ein Kompromiss, können aber gut funktionieren, wenn wir uns weiterentwickeln. Sonst werden wir wertvolle Ressourcen und Lebenszeit verschwenden. 

Personalmagazin: Lassen Sie uns noch einmal über den New-Work-Begriff sprechen. Der stammt ursprünglich von Frithjof Bergmann und entstand im Produktionsumfeld. Wie lässt er sich dorthin zurückführen?

Schirmer: Indem wir uns auf die Grundidee zurückbesinnen, also die Frage, wie wir es schaffen, dass die Menschen selbst herausfinden, wer sie sind und was sie wollen. Mit dieser Erkenntnis verändert sich Arbeit in ihrer Form. Das heißt allerdings auch, ein Menschenbild zu vertreten, das jeden Menschen in seiner Individualität wertschätzt und nicht als programmierbare Ressource im Produktionsprozess sieht.

Personalmagazin: Passen die monotonen Abläufe im Takt der Maschine in der Produktion und Fertigung mit diesem Weltbild zusammen?

Schirmer: Ich denke, dass ein Großteil der Menschen einen Sinn in ihrem Tun sehen und Selbstwirksamkeit erfahren möchte. Und das zeigt sich nicht nur darin zu sagen: Heute schaffe ich zwei Stück mehr als gestern. Deshalb arbeiten wir an Automatisierungslösungen, die "geistig respektlose" Tätigkeiten an Maschinen oder Algorithmen auslagern. Gleichzeitig gibt es aber auch Menschen, die Wiederholungen schätzen, was Stabilität gibt. Das muss genauso okay sein.

Dieses Interview erschien zuvor in Personalmagazin Ausgabe 10/2022. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


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