Urlaubsverfall bei Krankheit: EuGH schützt nur Mindesturlaub

In zwei Fällen aus Finnland hatten Arbeitnehmer geklagt, weil ihnen im Falle einer längeren Erkrankung zwar ihr gesetzlicher Mindesturlaub erhalten geblieben war, der darüber hinausgehende Tarifurlaub aber verfallen war. Der EuGH erklärte dies für zulässig.

Die finnischen Gerichte hatten dem EuGH die Frage vorgelegt, ob es mit europäischem Recht vereinbar ist, wenn gesetzliche oder tarifvertragliche Regelungen vorsehen, dass der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehende Tarifurlaub verfällt, wenn er aufgrund einer Erkrankung nicht genommen werden konnte.

Finnisches Recht kennt großzügige Urlaubsregelungen

Das finnische Jahresurlaubsgesetz sieht vor, dass ein Arbeitnehmer für jeden vollen Monatsbezugszeitraum Anspruch auf zweieinhalb Werktage bezahlten Urlaub hat. Der Jahresbezugszeitraum (1. April eines Jahres bis 31. März des Folgejahrs) umfasst höchstens zwölf Monatsbezugszeiträume. Hat ein Arbeitnehmer in einem Jahresbezugszeitraum zwölf volle Monatsbezugszeiträume, stehen ihm also 30 Tage Urlaub zu (das finnische Recht legt dabei eine Sechs-Tage-Woche zugrunde).

„Urlaubszeitraum“ ist nach dem finnischen Jahresurlaubsgesetzes die Zeit vom 2. Mai bis einschließlich 30. September. 24 Werktage des Jahresurlaubs (Sommerurlaub) sind im Urlaubszeitraum zu nehmen. Der übrige Urlaub (Winterurlaub) ist spätestens bis zum Beginn des nächsten Urlaubszeitraums zu gewähren.

Gutschrift bei Erkrankung

Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs gilt die Regelung, dass die in den Jahresurlaub fallenden Tage einer Arbeitsunfähigkeit auf Antrag gutgeschrieben werden, sofern sie sechs Urlaubstage überschreiten. Der Abzug dieser sechs Karenztage darf nicht dazu führen, dass sich der Mindestanspruch des Arbeitnehmers auf vier Wochen Jahresurlaub verringert.

In Finnland ist ebenso wie in Deutschland in Tarifverträgen häufig ein längerer bezahlter Jahresurlaub vorgesehen als im Jahresurlaubsgesetz. In diesen Tarifverträgen heißt es, der Urlaub bestimme sich „nach dem Jahresurlaubsgesetz und den nachfolgenden Bestimmungen“ und werde „nach Maßgabe des Jahresurlaubsgesetzes gewährt“.

Eine finnische Arbeitnehmerin, die aufgrund einer längeren Erkrankung während ihres Urlaubs diesen nicht nehmen konnte, wurde auf ihren Antrag hin der gesetzliche Mindesturlaub gutgeschrieben, nicht jedoch die darüber hinausgehenden Urlaubstage. Ihr Arbeitgeber berief sich insoweit auf die tariflichen und gesetzlichen Regelungen.

Darf Tarifurlaub verfallen?

Die zuständige finnische Gewerkschaft erhob daraufhin beim finnischen Arbeitsgericht Klage auf Feststellung, dass der Arbeitnehmerin der gesamte Urlaub gutgeschrieben wird. Die Gewerkschaft vertrat die Auffassung, das finnische Jahresurlaubsgesetz verstoße gegen Art. 7 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2003/88 und gegen Art. 31 Abs. 2 der EU-Charta, weil es im Krankheitsfall die Gutschrift von Urlaubstagen nur beim gesetzlich garantierten Urlaub vorsehe, nicht aber bei dem auf Tarifverträgen beruhenden Urlaub.

Die Arbeitgeberorganisation, die den in diesem Fall maßgeblichen Tarifvertrag unterzeichnet hatte, sah keinen Verstoß des finnischen Jahresurlaubsgesetzes gegen das Unionsrecht. Auf den Teil des Urlaubs, der über die in Art. 7 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2003/88 vorgesehene Mindesturlaubsdauer von vier Wochen hinausgehe, seien diese Bestimmungen nicht anwendbar.

EuGH hält an ständiger Rechtsprechung fest

Der EuGH hielt in seinem Urteil an seiner bisherigen Rechtsprechung fest und entschied, dass die Richtlinie 2003/88 innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehe, die einen  Anspruch auf bezahlten Urlaub, der über vier Wochen hinausgeht und dessen Gewährung im nationalen Recht regeln. Aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/88 gehe ausdrücklich hervor, dass die Richtlinie lediglich Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung enthält und das Recht der Mitgliedstaaten unberührt bleibt, für den Schutz der Arbeitnehmer günstigere nationale Vorschriften anzuwenden. In diesen Fällen sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die über das in der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Mindestmaß hinausgehen, nicht durch die Richtlinie geregelt, sondern durch das nationale Recht, außerhalb der Regelung der Richtlinie.

Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob sie den Arbeitnehmern einen über die Mindestdauer von vier Wochen hinausgehenden Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zuerkennen und gegebenenfalls die Bedingungen für die Gewährung und das Erlöschen solcher zusätzlicher Urlaubstage festzulegen, ohne dass sie insoweit an die Schutzregeln gebunden sind, die der EuGH in Bezug auf die Mindestdauer des bezahlten Jahresurlaubs herausgearbeitet hat.

Solange das nationale Recht durch seine Regelungen die vier Wochen Mindesturlaubsdauer nicht gefährdet, kann es frei regeln, wie Urlaub gewährt, übertragen oder gutgeschrieben wird. Der über vier Wochen hinausgehende Urlaub ist nicht durch die EU-Richtlinie geschützt.

Hinweis: EuGH, Urteil vom 19.12.2019, Rechtssachen C‑609/17 und C‑610/17

Schlagworte zum Thema:  Urlaub, Urlaubsanspruch, EuGH