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BFH Beschluss vom 24.01.1967 - II S 30/66

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht, Abgabenordnung Grunderwerbsteuer, Kfz-Steuer, sonstige Verkehrsteuern

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der BFH eine Vorschrift (hier: § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG) für nichtig erachtet und ist deswegen gemäß § 76 Nr. 2 BVerfGG die abstrakte Normenkontrolle des BVerfG beantragt, ist es zulässig und geboten, andere entsprechende Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des BVerfG auszusetzen.

 

Normenkette

FGO § 74; KVStG § 6 Abs. 1 Nr. 4; BVerfGG § 76 Nr. 2; GG Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100/1

 

Tatbestand

Die Klägerin (Revisionsbeklagte), eine GmbH, ist persönlich haftende Gesellschafterin einer KG. Sie wurde anläßlich ihres Eintritts in die gleichzeitig gegründete KG durch Gesellschaftsteuerbescheid vom 12. Juni 1964 gemäß § 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Nr. 4 des Kapitalverkehrsteuergesetzes (KVStG) zu einer Gesellschaftsteuer von ... DM herangezogen. Der gegen den Gesellschaftsteuerbescheid eingelegte Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 30. Juli 1965 als unbegründet zurückgewiesen.

Das Finanzgericht (FG) hat durch Berufungsurteil vom 15. Dezember 1965 die Klägerin von der angeforderten Gesellschaftsteuer freigestellt. Das FG hat seine Entscheidung auf das Grundsatzurteil des erkennenden Senats II 12/61 S vom 3. Dezember 1964 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 81 S. 55 - BFH 81, 55 -, BStBl III 1965, 19) gestützt.

In dem Grundsatzurteil II 12/61 S hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden, daß die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG, die dem Steuerbescheid des Finanzamts (FA) mit zugrunde lag, wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 des Grundgesetzes - GG -) nichtig ist.

Das FA (Beklagter und Revisionskläger) hat gegen das Urteil Revision eingelegt und beantragt, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über das von der Bayerischen Staatsregierung anhängig gemachte Verfahren - 1 BvF 3/65 - zur verfassungsrechtlichen Prüfung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG auszusetzen. Die Klägerin hat dem Antrag widersprochen.

 

Entscheidungsgründe

Das Revisionsverfahren war - im Ergebnis entsprechend den Beschlüssen des erkennenden Senats II S 2/66 vom 23. Februar 1966 (BFH 86, 248, BStBl III 1966, 402) und II B 3/66 vom 27. Juli 1966 (BFH 86, 504, BStBl III 1966, 546) - auszusetzen, bis das BVerfG über das anhängige Normenkontrollverfahren zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG - 1 BvF 3/65 - entschieden hat. In der Regel berechtigt zwar die verfassungsrechtliche Problematik für sich allein - sofern nicht nach Art. 100 GG zu verfahren ist - nicht zur Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO bis zur Entscheidung des BVerfG. (Vgl. dazu die Verfassungsbeschwerden betreffenden Entscheidungen des BFH IV 324/65 vom 13. Januar 1966 - BFH 84, 548, BStBl III 1966, 199 -, IV 264/65 vom 29. Juli 1966 - BFH 86, 671, BStBl III 1966, 629 - und I 225/65 vom 9. November 1966, BFH 87, 317, BStBl III 1967, 120.) Eine Aussetzung des Verfahrens erscheint jedoch ausnahmsweise gleichwohl geboten, wenn das im letzten Rechtszug zuständige und wiederum zur Entscheidung berufene Gericht sich bereits gegen die Gültigkeit der maßgebenden vorkonstitutionellen Norm ausgesprochen hat - hier durch das Urteil II 12/61 S (a. a. O.) zu § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG - und deswegen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Nr. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) die abstrakte Normenkontrolle des BVerfG beantragt worden ist.

§ 74 FGO entspricht wörtlich § 94 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 148 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Die zuletzt genannte Vorschrift konnte zumindest ursprünglich Normenkontrollverfahren der Art, wie sie heute vor dem BVerfG stattfinden, nicht erfassen, weil es im damaligen Zeitpunkt hinsichtlich der Gültigkeit von Gesetzen keine Normenkontrollverfahren gab. Von § 264 AO a. F. unterscheiden sich die genannten Vorschriften darin, daß sie die Aussetzung des Verfahrens grundsätzlich nur gestatten im Hinblick auf die von einer anderen Stelle zu treffende Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, das für die von dem Gericht zu treffende Entscheidung vorgreiflich ist, nicht aber mit Rücksicht auf die von dem Revisionsgericht zu treffende Entscheidung einer gleichen oder ähnlichen Streitfrage (Rechtsfrage). Beide Umstände schließen es aber nicht schlechthin aus, die Vorschrift des § 74 FGO sinngemäß auch auf den Fall anzuwenden, daß die Gültigkeit einer für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebenden Norm Gegenstand eines abstrakten Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG ist. Zwar wird in diesem nicht über ein individuelles Rechtsverhältnis entschieden, das für den Rechtsstreit vorgreiflich wäre. Die gesetzeskräftige Entscheidung des BVerfG (§ 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) über die Gültigkeit oder Nichtigkeit einer für die Entscheidung des Rechtsstreits durch das Revisionsgericht erheblichen Norm beinhaltet aber gleichwohl ein bindendes Erkenntnis auch über ein vorgreifliches Rechtsverhältnis, das das Revisionsgericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat.

Der Senat hält es daher für zulässig und geboten, in Fällen nach Art des Streitfalls die Vorschrift des § 74 FGO sinngemäß anzuwenden. Dem steht nicht entgegen, daß der Bundestag eine dem § 264 AO a. F. entsprechende, auf Rechtsfragen, über die ein Verfassungsrechtsstreit anhängig ist, ausdrücklich ausgedehnte Vorschrift des Regierungsentwurfs der FGO (§ 72 Abs. 2, Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode, Drucksache IV/1446 S. 13) gestrichen hat (Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode, Drucksache IV/3523 S. 30). Der zu der Streichung des § 72 Abs. 2 des Entwurfs erstattete Bericht des Rechtsausschusses (Deutscher Bundestag - 4. Wahlperiode, zu Drucksache IV/3523 S. 9), der einleitend noch auf die zunächst beabsichtigte Einführung eines dreistufigen Rechtszuges abstellt, läßt nicht erkennen, daß dabei die Verhinderung einer Aussetzung wegen eines vor dem BVerfG gegenüber einer Entscheidung des BFH gemäß § 76 Nr. 2 BVerfGG anhängig gemachten abstrakten Normenkontrollverfahrens in Erwägung gezogen worden ist. Soweit man aber aus der Entstehungsgeschichte der FGO einen gesetzgeberischen Willen herleiten könnte, die Aussetzung wegen Anhängigkeit eines solchen Verfahrens vor dem BVerfG auszuschließen, hat jedenfalls ein solcher Wille in der jetzigen Fassung des § 74 FGO keinen Niederschlag gefunden (so im Ergebnis auch Koch, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Anm. Finanzgerichtsordnung, § 74, Rechtsspruch 2 unter 1.). Der Senat sieht sich daher durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift nicht gehindert, § 74 FGO in Fällen nach Art des Streitfalls sinngemäß anzuwenden.

Für die Aussetzung sprechen außer den in den oben zitierten Beschlüssen II S 2/66 (a. a. O.) und II B 3/66 (a. a. O.) angestellten Erwägungen noch folgende Gesichtspunkte:

Es ist zu bedenken, daß die Klägerin an einer sofortigen Entscheidung des BFH nur für den Fall interessiert sein kann, daß das BVerfG möglicherweise entgegen dem Urteil II 12/61 S (a. a. O.) die Gültigkeit des § 6 Abs. 1 Nr. 4 KVStG bejahen würde. Denn die Vollziehung der festgesetzten Gesellschaftsteuer ist ausgesetzt. Der Steuerbetrag ist erstattet. Eine Nachforderung ist nur für den Fall einer anderweitigen Entscheidung des BVerfG vorbehalten. Unter der Annahme, daß das BVerfG im Sinne des BFH- Urteils II 12/61 S (a. a. O.) entscheidet, besteht also kein Bedürfnis nach einer alsbaldigen Entscheidung des BFH.

Die Aussetzung ist daher unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, daß das BVerfG im gegenteiligen Sinne entscheiden könnte. Unterstellt man dies, so würde, wenn man eine Aussetzung für unzulässig halten wollte, einer Prozeßpartei ein Anspruch auf eine Entscheidung eingeräumt, die kraft Fiktion als "falsch" gelten müßte, weil der Entscheidung des BVerfG rückwirkende Gesetzeskraft zukommt (§ 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; zur Rückwirkung vgl. §§ 78, 79 BVerfGG). Die entgegengesetzte Entscheidung des BFH wäre endgültig, da dem beklagten Fiskus kein Rechtsbehelf gegen das Urteil des BFH zusteht und die Entscheidung des BVerfG nicht zur Wiederaufnahme führt. Damit würde die - bereits durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vorgesehene - Schutzfunktion des § 76 Nr. 2 BVerfGG für die schon anhängigen Fälle vereitelt. Das Gericht kann sich nicht in dieser Weise über die Rechte der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bezeichneten Verfassungsorgane hinwegsetzen, sofern deren Standpunkt nicht geradezu abwegig ist.

In dem anhängigen Revisionsverfahren ist sowohl die Rechtslage als auch die Interessenlage verschieden gegenüber dem Fall, daß das Gericht eine entscheidungserhebliche Gesetzesnorm entgegen der Ansicht des jeweiligen Klägers für gültig hält. Denn diesem bleibt es - anders als dem beklagten Fiskus - unbenommen, gegen das Urteil des BFH Verfassungsbeschwerde einzulegen (§ 90 Abs. 1 BVerfGG).

Würde der BFH weiterhin entsprechend seinem Urteil II 12/61 S (a. a. O.) jeweils zur Sache entscheiden, so würde - unter der Unterstellung, daß das BVerfG den gegenteiligen Standpunkt einnehmen sollte - zumindest die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, wenn nicht gar der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzt. Zum einen hängt es weitgehend vom Zufall ab, welche Fälle bereits beim BFH und welche noch bei den FGen anhängig sind; zum anderen könnte damit die Reihenfolge, in der die anhängigen Revisionen zur Entscheidung kommen, maßgebende Bedeutung erlangen (je nachdem nämlich, wann das BVerfG - wie hier unterstellt - entgegengesetzt entscheiden würde).

Nach allem bleibt der erkennende Senat im Ergebnis bei seiner Auffassung, daß er bei der im Rahmen der sinngemäßen Anwendung des § 74 FGO gebotenen Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens nach Anhängigmachung des abstrakten Normenkontrollverfahrens der Entscheidung des BVerfG nicht vorgreifen darf (im Ergebnis übereinstimmend Koch, a. a. O.).

Eine Anrufung des Großen Senats hält der erkennende Senat weder nach § 11 Abs. 3 noch nach § 11 Abs. 4 FGO für geboten.

Eine Abweichung im Sinne von § 11 Abs. 3 FGO liegt nicht vor. Der Senat weicht insbesondere auch nicht von den oben angeführten, die Aussetzung bei Verfassungsbeschwerden betreffenden Entscheidungen des IV. Senats IV 324/65 (a. a. O.) und IV 264/65 (a. a. O.) sowie des I. Senats I 225/65 ab, wenn er bei Anhängigkeit eines abstrakten Normenkontrollverfahrens wegen einer vom BFH als nichtig angesehenen Gesetzesnorm in sinngemäßer Anwendung des § 74 FGO eine Aussetzung für zulässig und geboten erachtet.

Auch von einer Vorlage an den Großen Senat nach § 11 Abs. 4 FGO wird abgesehen. Angesichts der geringen Anzahl abstrakter Normenkontrollverfahren, die im Bereich des Steuerrechts anhängig geworden sind, ist insoweit die Aussetzungsfrage nicht als grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412438

BStBl III 1967, 205

BFHE 1967, 517

BFHE 87, 517

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