Keine kindergeldrechtliche Rückwirkung bei Aufenthaltstitel

Erteilt die Ausländerbehörde rückwirkend einen Aufenthaltstitel, der zur Inanspruchnahme von Kindergeld berechtigt, hat dies kindergeldrechtlich keine Rückwirkung.

Hintergrund

Die Entscheidung befasst sich mit der Frage, ob eine in Deutschland lebende ausländische Mutter für ihr in Deutschland geborenes Kind erst ab dem Zeitpunkt der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Kindergeld erhält, oder ob das Kindergeld bereits ab dem Zeitpunkt der Geburt zu gewähren ist, wenn die für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zuständige Behörde bestätigt, dass die aufenthaltsrechtliche Wirkung der Erlaubnis bereits vom Zeitpunkt der Geburt an gilt.

A ist nigerianische, ihre Tochter deutsche Staatsangehörige. A reiste mit einem vom 5.11.2011 bis 19.11.2011 gültigen Besuchervisum nach Deutschland ein. Am 27.6.2012 beantragte sie im Hinblick auf ihre Schwangerschaft eine Duldung. Dem Antrag war eine notarielle Urkunde beigefügt, in der ein deutscher Staatsangehöriger (U) die Vaterschaft für das zu erwartende Kind anerkannte.

Ab dem 2.7.2012 gewährte ihr die Stadt daraufhin eine Duldung. Nach der Geburt beantragte A am 24.9.2012 eine Aufenthaltserlaubnis. Nach Abschluss eines Verfahrens zur Überprüfung der Vaterschaft des U erteilte die Stadt am 24.7.2013 eine Aufenthaltserlaubnis, die zur Ausübung der Erwerbstätigkeit berechtigte.

Den im Oktober 2012 gestellten Kindergeldantrag lehnte die Familienkasse mit der Begründung ab, es liege kein zum Kindergeld berechtigender Aufenthaltstitel vor. Während des anschließenden Klageverfahrens teilte die Ausländerbehörde dem FG mit, dass die erteilte Aufenthaltserlaubnis zwar erst ab der Entscheidung gelte. Jedoch habe der Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis bereits seit der Geburt des Kindes bestanden.

Das FG gab der Klage mit der Begründung statt, bei einer nachträglichen rückwirkenden Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entstehe rückwirkend der Kindergeldanspruch ab der Geburt des Kindes.

Entscheidung

Der BFH widerspricht dem FG. Er hob das FG-Urteil auf und wies die Klage ab.

Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer erhält nach § 62 Abs. 2 Nr. 2 Kindergeld nur, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt oder berechtigt hat (von den Ausnahmen in § 62 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG abgesehen). Nach dem eindeutigen Wortlaut ist diese Voraussetzung nur erfüllt, wenn der Ausländer die Aufenthaltsgenehmigung tatsächlich in Händen hält, ihm also das Aufenthaltsrecht durch Verwaltungsakt mit Wirkung für die Bezugszeit des Kindergelds zugebilligt worden ist. Nicht entscheidend ist, ob ein Anspruch auf den Titel bestand. Der Kindergeldanspruch setzt vielmehr voraus, dass der Kindergeldberechtigte im maßgeblichen Zeitraum den Aufenthaltstitel tatsächlich (körperlich) in den Händen hält. Im Streitfall erhielt A die Aufenthaltserlaubnis erst während des Klageverfahrens. Die Erklärung der Ausländerbehörde, dass die aufenthaltsrechtliche Wirkung ab dem Zeitpunkt der Geburt gelte, ändert nichts daran, dass A in den Monaten August 2012 bis Juni 2013 keinen Aufenthaltstitel besessen hat.

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels führt nicht rückwirkend zum Bezug von Kindergeld. Das Tatbestandsmerkmal "im Besitz" steht einem rückwirkenden Bezug von Kindergeld auch dann entgegen, wenn ein Aufenthaltstitel rückwirkend erteilt wird. Die Regelung stellt auf die mögliche Integration von Ausländern in den deutschen Arbeitsmarkt ab. Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, der nicht im Besitz einer zur Erwerbstätigkeit berechtigenden Aufenthaltserlaubnis ist, kann eine legale Erwerbstätigkeit nicht aufnehmen und somit nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden. Daher kann eine rechtmäßige Beschäftigung nur erfolgen, wenn der Arbeitnehmer einen entsprechenden Titel zu Beginn der Beschäftigung tatsächlich in Händen hat. Indem die kindergeldrechtliche Regelung (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG) den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis mit dem weiteren Merkmal der Berechtigung zur Erwerbstätigkeit verknüpft, kommt zum Ausdruck, dass die Aufenthaltserlaubnis zumindest an einem Tag des monatlichen Leistungszeitraums vorgelegen haben muss.

Die Abhängigkeit der Kindergeldberechtigung von der tatsächlichen Erteilung des Aufenthaltstitels ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Mit Rücksicht auf die Typisierungsnotwendigkeiten und die Verwaltungspraktikabilität des auf die Beurteilung von Massenverfahren zugeschnittenen Kindergeldrechts von Ausländern ist es gerechtfertigt, dass die sachnähere Ausländerbehörde mit Bindung für die Familienkassen den Ausländerstatus feststellt.

Hinweis

Auch wenn das Ergebnis unbefriedigend erscheint, ist die fehlende kindergeldrechtliche Rückwirkung damit für die Praxis geklärt. Entscheidend ist das Datum der Erteilung des Aufenthaltstitels. Es ist unerheblich, ob der Antragsteller behauptet oder gar nachweisen kann, dass ihm ein Anspruch auf einen entsprechenden Aufenthaltstitel zusteht. Diese Prüfung obliegt nicht der Familienkasse. Das Massenverfahren bringt es mit sich, dass der Kindergeldanspruch von der Erteilung des Aufenthaltstitels abhängig ist (Tatbestandswirkung). Damit wird der Anspruch auch von den Zufälligkeiten des Verfahrensablaufs bei der Ausländerbehörde beeinflusst. Das ist hinzunehmen, solange keine willkürliche rechtsmissbräuchliche Verzögerung vorliegt. Darauf sollte in vergleichbaren Fällen geachtet werden.

Das Niedersächsische FG hat sechs Klageverfahren ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 62 Abs. 2 verfassungswidrig ist. Die Sachverhalte sind unterschiedlich gelagert. Für den Streitfall lehnt der BFH eine Vorlage an das BVerfG mit dem Hinweis darauf ab, dass das vorliegende Verfahren mit den beim Niedersächsischen FG erhobenen Klagen nicht vergleichbar ist. In fünf dieser Verfahren hatten die Kläger im Streitzeitraum einen Aufenthaltstitel. Ein Klageverfahren betrifft einen Fall, in dem der Kläger - vergleichbar mit dem Streitfall - (nur) geduldet war. In diesem Fall lag allerdings eine "Dauerduldung" vor. Im Streitfall bestand dagegen keine langjährige "Dauerduldung", sondern lediglich eine einmalige Duldung für ein Jahr, weil noch nicht feststand, ob das Kind durch Geburt deutscher Staatsangehöriger ist. Bis zum Nachweis war daher völlig offen, ob A in Deutschland bleiben darf. Es fehlte daher an einer Grundlage für die Prognose eines dauerhaften rechtmäßigen Aufenthalts von A in Deutschland.

BFH, Urteil v. 5.2.2015, III R 19/14, veröffentlicht am 1.7.2015

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