Eingeschränkte Haftung trotz Missachtung der Vorfahrt

Stößt ein Linksabbieger mit einem entgegenkommenden, vorfahrtsberechtigten Auto zusammen, das deutlich zu schnell unterwegs war, kann dies zu einer deutlichen Haftungsminderung für ihn führen.

Der Unfall ereignete sich innerorts, bei Dunkelheit. Der linksabbiegende Kläger unterschätzte offensichtlich, wie schnell sich das entgegenkommende Fahrzeug näherte – es fuhr 80 km/h und damit um 30 km/h schneller als zugelassen. Beim Abbiegen wurde das Fahrzeug des Linksabbiegers hinten rechts von dem entgegenkommenden Fahrzeug erfasst.

Das Landgericht hatte keinen Anspruch des Linksabbiegers gesehen. Das Kammergericht Berlin kam zu einer anderen Einschätzung: Zwar werde der Anscheinsbeweis der Verletzung der aus § 9 III 2 StVO folgenden Wartepflicht des Linksabbiegers durch die überhöhte Geschwindigkeit des Bevorrechtigten nicht erschüttert. Sie schränke auch den Vorrang des entgegenkommenden Verkehrs nicht ein.

Wenn der Vorfahrtsberechtigte die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit aber deutlich überschreite, treffe ihn dennoch ein erhebliches Mitverschulden. Im konkreten Fall sah das Gericht eine Quote von 2/3 zu Lasten des Bevorrechtigten.

Der Kläger haftet also zu einem Drittel. Das Gericht begründete das so:


  • Durch das Verschulden des Beklagten wird das (Mit-)Verschulden des Klägers wegen der Verletzung der ihm nach § 9 Abs. 3 S.2 StVO obliegenden Sorgfaltspflicht nicht beseitigt.
  • Denn der Kläger habe das Fahrzeug rechtzeitig gesehen bzw. hätte es rechtzeitig sehen und darauf reagieren können.

Zu Pflichten des Linksabbiegers äußerte sich das Gericht wie folgt:


  • Es stehe fest, dass der Beklagte nicht weit weg gewesen sein könne. Der Kläger hätte deshalb nicht abbiegen dürfen, selbst wenn der Beklagte nur mit den zulässigen 50 km/h unterwegs gewesen wäre.
  • Einem Wartepflichtigen ist es nicht erlaubt, knapp vor dem Herannahen des Gegenverkehrs abzubiegen. Er darf nur fahren, wenn er übersehen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte weder gefährdet noch wesentlich behindert wird (vgl. § 8 Abs. 2 S. 1 und S. 2 StVO).
  • Selbst wenn der Gegenverkehr objektiv betrachtet nicht abbremsen müsste, darf der Abstand nicht so knapp bemessen sein, dass bei einem verzögerten Anfahren oder erzwungenem Stehenbleiben – beispielsweise wegen zuvor übersehener Fußgänger oder Radfahrer – das Abbiegen unnötigerweise riskant oder potenziell gefährdet ist.
  • Es genügt deshalb nicht, wenn das entgegenkommende Fahrzeug unverzögert knapp hinter dem Heck des Abbiegers vorbeifahren könne. Es müsse vielmehr ein deutlicher Abstand gegeben sein. Andernfalls würde ein verantwortungsbewusster, umsichtiger Fahrer dennoch zu einem stärkeren Abbremsen genötigt.

So kam das Gericht zu der Haftungsverteilung von 2/3 seitens des Beklagten und 1/3 seitens des Klägers:


  • Bei Abwägung der Mitverursachungs- und Mitverschuldensanteile sowie der Betriebsgefahren nach §§ 17 Abs. 1 und 2, § 9 StVG, 254 BGB überwiegt das grobe Verschulden des Beklagten, weil er die zulässige Geschwindigkeit erheblich überschritten hatte.
  • Dieses grobe Verschulden sei aber nicht so wesentlich prägend, dass eine Anrechnung des Mitverschuldens des Klägers ausbleiben müsse.
  • Zumal davon auszugehen sei, dass der Kläger nicht zügig abbog, obwohl er das Fahrzeug des Beklagten gesehen haben müsse.

Ein geringerer Haftungsanteil des Beklagten komme schon deshalb nicht in Betracht, weil ihm bewusst hätte sein müssen, dass sein Fahrzeug bei Dunkelheit wegen der Fahrzeugbeleuchtung zwar besser erkennbar war. Durch die Dunkelheit aber das Abschätzen der Entfernung deutlich erschwert war, so das KG Berlin.

(KG Berlin, Urteil v. 21.02.2019, 22 U 122/17)

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