BGH: Vorbeifahrt an einem Müllabfuhrfahrzeug

Kfz-Führer, die an einem erkennbar im Einsatz befindlichen Fahrzeug der Müllabfuhr vorbeifahren, dürfen nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der Müllwerker vertrauen.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich mit den Sorgfaltsanforderungen an Kraftfahrzeugführer beschäftigt, die an einem im Einsatz befindlichen Müllabfuhrfahrzeug vorbeifahren. Im konkreten Fall hatte ein Pflegedienst gegen einen für die Abfallwirtschaft zuständigen kommunalen Zweckverband Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend gemacht.

Müllabfuhrfahrzeug hatte sämtliche Blink- und Warnleuchten an

Eine Mitarbeiterin der Klägerin fuhr im innerstädtischen Bereich mit einem Fahrzeug des Pflegedienstes an einem auf der Gegenfahrbahn stehenden Müllabfuhrfahrzeug mit einem Seitenabstand von ca. 50 cm und einer Geschwindigkeit von ca. 13 km/h vorbei. Das Müllabfuhrfahrzeug hatte sämtliche gelben Rundumleuchten sowie die Warnblinkanlage eingeschaltet.

Müllcontainer in Verkehrsraum geschoben

Als die Mitarbeiterin fast an dem Müllabfuhrfahrzeug vorbei war, schob ein bei dem beklagten Zweckverband angestellter Müllwerker hinter dem Müllabfuhrfahrzeug einen Müllcontainer quer über die Straße. Hierbei kam es zur Kollision zwischen dem Fahrzeug der Klägerin und dem Müllcontainer.

Pflegedienst forderte vollen Schadenersatz

Die Betreiberin des Pflegedienstes verlangte vollen Ersatz des entstandenen Schadens. Die für sie tätige Kraftfahrerin sei umsichtig und mit angepasster Geschwindigkeit an dem Müllfahrzeug vorbeigefahren. Während dieser Zeit schob der Müllwerker, für die Fahrerin zunächst nicht sichtbar, den Müllcontainer auf die Straße, ohne sich zu vergewissern, ob dies gefahrlos möglich war. Hätte er den Container nicht geschoben, sondern gezogen – so die Klägerin – hätte er das an dem Müllabfuhrfahrzeug vorbeifahrende Fahrzeug der Klägerin rechtzeitig gesehen, sodass eine Kollision vermieden worden wäre.

Instanzgerichte kamen zu unterschiedlichen Schadensquoten

Nachdem das Landgericht (LG) der Schadensersatzklage der Klägerin mit einer Quote von 50 % stattgegeben hatte, erhöhte das Berufungsgericht die Schadensquote auf 75 zu 25 zugunsten der Klägerin. Die gegen dieses Urteil eingelegte Revision des Beklagten hatte Erfolg.

Müllcontainer auf der Straße ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen

Nach der Entscheidung des BGH steht der Klägerin gegen den Beklagten als Halter des Müllabfuhrfahrzeugs grundsätzlich ein Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG zu. Der Schaden am Fahrzeug der Klägerin sei bei dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs beschädigt worden, da die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgehende Gefahr dem Betrieb des Müllfahrzeugs zuzurechnen sei.

Verstoß des Müllwerkers gegen die StVO

Nach Auffassung des BGH hatte die Vorinstanz dem Müllwerker auch zu Recht einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen, weil er hinter dem Müllabfuhrfahrzeug einen Müllcontainer quer über die Straße geschoben hatte, ohne auf den fließenden Verkehr zu achten. Der BGH teilte die Auffassung der Klägerin, dass die Kollision hätte vermieden werden können, wenn der Müllwerker den Müllcontainer nicht geschoben, sondern gezogen hätte und er auf diese Weise das Fahrzeug der Klägerin frühzeitig hätte erkennen können.

Sorgfaltspflichtverstoß auch der Pflegedienstfahrerin

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sah der BGH aber auch bei der Mitarbeiterin der Klägerin einen über die bloße Betriebsgefahr hinausgehenden Verstoß gegen ihre nach der Straßenverkehrsordnung bestehende Sorgfaltspflicht. Der Fahrerin hätte klar sein müssen, dass das Hauptaugenmerk der mit dem Holen, Entleeren und Zurückbringen von Müllcontainern befassten Müllwerker auf ihre Tätigkeit gerichtet sei, die sie überwiegend auf der Straße unter Zeitdruck mit möglichst kurzen Wegen zu erledigen hätten. Effizienz und Schnelligkeit sei das oberste Gebot bei einer solchen Tätigkeit.

Mit Unachtsamkeit der Müllwerker muss gerechnet werden

Dieser Sachverhalt führt nach Auffassung des Senats dazu, dass derjenige, der an einem Müllabfuhrfahrzeug vorbeifährt, das erkennbar im Einsatz ist, nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der Müllwerker vertrauen darf. Er müsse damit rechnen, dass Müllwerker plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortreten und unachtsam Schritte den Verkehrsraum tun. Diese typischerweise mit dem Einsatz von Müllabfuhrfahrzeugen verbundenen Gefahren hätten an Fahrzeugen der Müllabfuhr vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer zu gegenwärtigen und ihr Fahrverhalten darauf einzurichten.

13 km/h sind bei Vorbeifahrt an Müllabfuhrfahrzeugen viel zu schnell

Aus diesen Grundsätzen folgert der BGH, dass der an einem Müllabfuhrfahrzeug lediglich mit einem Seitenabstand von 50 cm vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer seine Geschwindigkeit so einrichten müsse, dass er notfalls sein Fahrzeug sofort zum Stehen bringen kann. Dies bedeutet nach der Entscheidung des BGH: Vorbeifahrt nur mit Schrittgeschwindigkeit zulässig. Eine Geschwindigkeit von 13 km/h sei in dieser Situation viel zu hoch. Gemäß § 3 StVO dürfe ein Fahrzeugführer nur so schnell fahren, dass er das Fahrzeug ständig beherrscht und auf Gefahrensituationen sofort reagieren kann. Diesen Sorgfaltsanforderungen hatte die Fahrweise der Mitarbeiterin der Klägerin nach der Entscheidung des BGH nicht genügt.

Vorinstanz muss erneut entscheiden

Die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanzen genügten dem BGH für eine endgültige Verteilung der Haftungsquote nicht. Der BGH hat daher die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen, die unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats die Haftungsquote wohl zugunsten des Beklagten wird deutlich verändern müssen.

(BGH, Urteil v. 12.12.2023, VI ZR 77/23).