BGH: Fiktive Schadensberechnung und Anwaltskosten nach Unfall

Bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nach Verkehrsunfällen sind vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten regelmäßig zu erstatten. Nur in extrem einfach gelagerten Fällen ist dem Geschädigten die Geltendmachung von Schadenersatz ohne anwaltliche Hilfe zumutbar.

Für Rechtsanwälte ist das Urteil des BGH durchaus erfreulich. Mit seiner Entscheidung hat er die Schadensfälle , in denen Anwaltskosten wegen einfach gelagerter Sachverhalte nicht erstattungsfähig sind, deutlich eingeschränkt. Schon im Hinblick auf die Kompliziertheit der Rechtsprechung zur Schadensberechnung, dürften Rechtsanwaltskosten nach dieser Entscheidung in der Praxis fast immer erstattungsfähig sein.

Streit über fiktive Schadensberechnung

Die Klägerin im vom BGH entschiedenen Fall ist ein international tätiges Autovermietungsunternehmen. Die Klägerin machte Schadenersatz aus einem Verkehrsunfall geltend, bei dem das alleinige Verschulden der Beklagten und deren vollständige Ersatzpflicht unstreitig sind. Auf der Grundlage eines von der Klägerin in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens hat diese den Reparaturschaden fiktiv mit 1.443,78 Euro abgerechnet. Bis auf einen Differenzbetrag von ca. 125 Euro hat die Beklagte den Schaden erstattet. Die Beklagte verweist insoweit darauf, dass die Klägerin als großes Autovermietungsunternehmen bei Reparaturen Großkundenrabatte erhalte, die auch bei einer fiktiven Abrechnung anzurechnen seien.

Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verweigert

Darüber hinaus war die Beklagte nicht bereit, die von der Klägerin geltend gemachten außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von ca. 280 Euro zu erstatten. Dies begründete die Beklagte damit, der Schadensfall sei einfach gelagert. Als gewerblicher Autovermieter sei die Klägerin geschäftlich so gewandt, dass sie in der Lage sei, solche Ansprüche ohne Zuhilfenahme eines Rechtsanwalts geltend zu machen. Nachdem AG und LG erstinstanzlich der Klage stattgegeben haben, verfolgte die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag mit der zugelassenen Revision weiter.

Erforderlichkeitsgrundsatz gilt auch bei fiktiver Schadensberechnung

Der BGH stellte klar, dass im Rahmen des Schadenersatzes gemäß § 249 Abs. 3 Satz 1 BGB nur die zur Schadensbehebung erforderlichen Kosten zu erstatten sind. Dieser Grundsatz der Erforderlichkeit gelte auch im Rahmen einer fiktiven Schadensberechnung. Erforderlich seien hiernach nur solche Kosten, die ein verständiger, wirtschaftlich denkender Eigentümer in der Lage des Geschädigten aufbringen würde (BGH Urteil v. 20.12.2016, VI ZR 612/15). Das darin enthaltene Wirtschaftlichkeitsgebot verpflichte den Geschädigten, im Rahmen des ihm Zumutbaren einen möglichst wirtschaftlichen Weg der Schadensbehebung unter Berücksichtigung seiner individuellen Möglichkeiten (subjektbezogene Schadensbetrachtung) zu wählen (BGH, Urteil v. 25.9.2018, VI ZR 65/18).

Großkundenrabatte bei fiktiver Schadensberechnung zu berücksichtigen

Aus diesen Grundsätzen folgerte der BGH, dass ein Geschädigter, der im konkreten Fall für die Reparatur des Unfallfahrzeugs ohne weiteres Großkundenrabatte in Anspruch nehmen könne, dies auch bei der fiktiven Schadensberechnung zu berücksichtigen habe, da er ansonsten durch eine fiktive Schadensberechnung im Vergleich zur konkreten Schadensbehebung in ungerechtfertigter Weise bereichert würde. Der diesbezügliche Einwand der Beklagten sei daher beachtlich und es sei Sache der Klägerin, diesen Einwand durch konkrete Darlegung ihrer Rabattmöglichkeiten gegebenenfalls auszuräumen.

Die Beauftragung eines Rechtsanwalts muss zweckmäßig sein

Demgegenüber sind nach der Entscheidung des Senats die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten im vorliegenden Fall als durch das Schadensereignis erforderlich gewordene Rechtsverfolgungskosten gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB zu erstatten. Nach ständiger Rechtsprechung habe der Schädiger zwar nicht schlechthin sämtliche durch das Schadensereignis adäquat verursachten Rechtsanwaltskosten auszugleichen. Zu ersetzen seien aber immer die Anwaltskosten, die aufgrund einer aus Sicht des Geschädigten zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlichen und zweckmäßigen Mandatierung entstanden sind (BGH, Urteil v. 18.7.2017, VI ZR 465/16).

Anwalt bei extrem einfachen Fällen entbehrlich

Ist die Verantwortlichkeit für den Schaden und die Haftung nach Grund und Höhe dermaßen klar, dass aus Sicht des Geschädigten kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann, dass der Schädiger bzw. dessen Pflichtversicherer seiner Ersatzpflicht nachkommen wird, so ist nach ständiger Rechtsprechung im Einzelfall die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich (BGH, Urteil v. 12.12.2006, VI ZR 175/05). Dies gilt nach der Entscheidung des BGH jedenfalls dann, wenn im konkreten Fall der Geschädigte geschäftlich ausreichend gewandt ist, um den Schaden selbst anzumelden und auch durch andere Gründe wie Krankheit und ähnliches an einer Geltendmachung nicht gehindert ist.

Verkehrsunfälle sind selten einfach gelagert

Nach Auffassung des BGH ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die schadensrechtliche Abwicklung eines Verkehrsunfalls, an dem zwei Fahrzeuge beteiligt waren, zumindest im Hinblick auf die Schadenshöhe regelmäßig keinen einfach gelagerten Fall darstellt. Zu Recht habe das Berufungsgericht darauf abgestellt, dass bei einem Fahrzeugschaden die rechtliche Beurteilung nahezu jeder Schadensposition in Rechtsprechung und Lehre seit Jahren intensiv und kontrovers diskutiert wird und die Rechtsprechung sich in diesen Fragen ständig weiterentwickelt. Zwischen Geschädigten und den in der Regel hochspezialisierten Rechtsabteilungen der Haftpflichtversicherer würde nicht selten um einzelne Beträge bis zur letzten Gerichtsinstanz gestritten, wie gerade auch der vorliegende Fall zeige.

Schadensberechnung bei Verkehrsunfällen regelmäßig komplex

Bei den in solchen Fällen auftretenden Unklarheiten im Hinblick auf die Höhe der Ersatzpflicht dürfe auch der mit Verkehrsunfällen vertraute Geschädigte von vornherein vernünftige Zweifel daran haben, ob der Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer seiner Ersatzpflicht ohne Probleme nachkommen wird. Dies gelte auch bei absoluter Eindeutigkeit des Haftgrundes. Die Einigkeit über die grundsätzliche Ersatzpflicht schließe deshalb die Erforderlichkeit der Beauftragung eines Rechtsanwalts im Sinne von § 49 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht aus. Auch hier sei mit Blick auf die strittige Berechnung der fiktiven Reparaturkosten nicht von einem einfach gelagerten Fall auszugehen, so dass die Beklagte ungeachtet ihrer Geschäftsgewandtheit als großes Mietwagenunternehmen bereits vorgerichtlich einen Rechtsanwalt für die Schadensregulierung einschalten durfte.

Berechtigte Schadensersatzforderung bestimmt den Gegenstandswert

Bei der Berechnung der Rechtsanwaltskosten ist nach der Entscheidung des BGH der Gegenstandswert zu Grunde zu legen, der der gegebenenfalls gerichtlich festgestellten berechtigten Schadensersatzforderung entspricht. Vor diesem Hintergrund hat der BGH den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung über die exakte Schadenshöhe hinsichtlich der möglichen Großkundenrabatte und den für die geltend gemachten Rechtsanwaltskosten anzusetzenden Gegenstandswert an die Vorinstanz zurückverwiesen.


(BGH, Urteil v. 29.10.2019, VI ZR 45/19)

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