BGH: Anmaßung medizinischer Sachkunde durch Gericht

Ein Gericht darf bei einer, medizinisches Fachwissen voraussetzenden Beurteilung eines Sachverhalts nur unter engen Voraussetzungen eigene Sachkunde an die Stelle eines medizinischen Sachverständigengutachtens setzen.

In einer Grundsatzentscheidung hat der BGH sich mit der Frage befasst, inwieweit ein Gericht bei einer, fachliche Kenntnisse voraussetzenden Beurteilung eines Sachverhalts, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens verzichten und bei der Entscheidung auf eigene Sachkunde setzen darf. Dies ist nach der Entscheidung des BGH ohne Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur unter engen Voraussetzungen möglich.

Schadenersatz wegen Dienstunfähigkeit nach Verkehrsunfall

Als Dienstherrin eines städtischen Feuerwehrbeamten forderte die Klägerin von den Beklagten die Erstattung von Leistungen, die sie dem Feuerwehrbeamten für die Folgen eines Verkehrsunfalls gewährt hatte. Der geschädigte Feuerwehrmann hatte bei dem Verkehrsunfall komplexe Frakturen des rechten Handgelenks und des rechten Unterarms erlitten und war infolgedessen wegen Dienstunfähigkeit ab Ende April 2012 in den Ruhestand versetzt worden. Die Dienstherrin forderte von den Beklagten (Fahrzeughalter, Unfallverursacher und Haftpflichtversicherer) Ersatz der in dem Zeitraum der Dienstunfähigkeit gezahlten Gehälter und Versorgungsbezüge aus übergegangenem Recht.

Berufungsgericht sieht Verletzung der Schadensminderungspflicht

Nachdem das erstinstanzlich zuständige LG der Klage im Wesentlichen stattgegeben hatte, hat das Berufungsgericht die Klage zu einem erheblichen Teil abgewiesen und die geforderte Schadenssumme von über 110.000 EUR auf ca. 31.000 EUR reduziert. Begründet hatte das OLG die Reduzierung mit einer Verletzung der Schadensminderungspflicht durch den geschädigten Feuerwehrbeamten. Obwohl er physisch und psychisch hierzu in der Lage gewesen sei, habe er es unterlassen, den eingetretenen Erwerbsschaden durch Verwertung der ihm verbliebenen Arbeitskraft zu mindern.

Feststellung der Erwerbsfähigkeit ist fachlich zu begründen

Nach der Entscheidung des BGH hätte das Berufungsgericht die teilweise Abweisung der Klage nicht ohne Weiteres auf die Verletzung einer Erwerbsobliegenheit stützen dürfen. Dem vom Berufungsgericht herangezogenen Rechtsgrundsatz, dass im Fall einer die Arbeitskraft beeinträchtigenden Gesundheitsverletzung eine Verpflichtung des Verletzten besteht, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten (BGH, Urteil v. 24.1.2023 VI ZR 152/21), stimmte der Senat grundsätzlich zu. Voraussetzung für die Annahme einer Verletzung dieser Erwerbsobliegenheit sei aber die fachlich zu begründende Feststellung, dass und in welchem Umfang der Geschädigte nach der erfolgten Gesundheitsverletzung noch oder wieder arbeitsfähig ist.

Berufungsgericht bejahte Erwerbsfähigkeit entgegen ärztlicher Atteste

Das Berufungsgericht hatte aus einzelnen Tätigkeiten des Geschädigten während seiner Dienstunfähigkeit aus eigener Sachkunde den Schluss gezogen, dass dieser ab September 2012 bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung hin wieder arbeitsfähig gewesen sei. So habe der Kläger zeitweise als Betreuer einer Wohngruppe bei der Caritas gearbeitet, er habe im Jahr seiner Pensionierung ein Gebäude erworben und eigenständig restauriert. Dort unterhalte er mit seiner Frau eine Galerie, in der er Fotos vertreibe, die er selbst als Fotograf aufgenommen habe. Auf diese Tätigkeiten stützte das Berufungsgericht die Annahme, der Geschädigte sei auch in seinem Beruf wieder in vollem Umfange einsatzfähig gewesen. Dieser Schlussfolgerung standen Atteste des Hausarztes des Geschädigten sowie der behandelnden Psychotherapeutin entgegen, wonach dem Geschädigten infolge eines posttraumatischen Belastungssyndroms, einer chronischen Schmerzstörung sowie einer rezidivierend depressiven Störung aus medizinischer Sicht Erwerbsunfähigkeit bescheinigt wurde.

Anmaßung medizinischer Fachkompetenz durch das OLG

Nach Auffassung des BGH hätte das Berufungsgericht sich über die vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht ohne Weiteres hinwegsetzen und aus vermeintlich eigener Fachkompetenz von einer vollen Erwerbsfähigkeit des Geschädigten ausgehen dürfen. Das Berufungsgericht habe sich durch diese Vorgehensweise eigene medizinische Fachkunde angemaßt, ohne diese angebliche Fachkompetenz nachvollziehbar zu begründen.

Verletzung der Hinweispflicht

Nach der Entscheidung des Senats hatte es das Berufungsgericht auch versäumt, die Parteien vor seiner Entscheidung darauf hinzuweisen, dass es sein Urteil auf eigene medizinische Fachkunde stützen wolle. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts handle es sich bei den vorgelegten Attesten des Hausarztes und der Psychotherapeutin des Geschädigten auch nicht um bloße Behauptungen der Klägerin, sondern um qualifizierten Sachvortrag zur Frage der Erwerbsfähigkeit des Geschädigten. Habe ein Gericht die Absicht, entgegen solcher fachmedizinischer Stellungnahmen, eine Entscheidung aus eigener Fachkompetenz zu treffen, so müsse es die Parteien hierauf vorab hinweisen und diesen Gelegenheit zur Stellungnahme geben (BGH, Beschluss v. 14.11.2023, VI ZR 244/21).

Parteivortrag teilweise übergangen

Der Rückschluss des Berufungsgerichts von der Ausübung geringfügiger Tätigkeiten des Geschädigten ist nach Auffassung des BGH – abgesehen von der fehlenden medizinischen Sachkunde des Gerichts – auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen auch sachlich nicht nachvollziehbar. Die Vorinstanz habe es insoweit auch rechtsfehlerhaft versäumt, sich mit dem Vorbringen der Klägerin auseinanderzusetzen, der Geschädigte sei selbst von diesen geringfügigen Tätigkeiten körperlich und psychisch überfordert gewesen.

Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt

Nach der Entscheidung des BGH hatte das Berufungsgericht mit seiner Vorgehensweise den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei ein Prozessgrundrecht und verpflichte das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten insgesamt zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Im Rahmen dieses Prozessgrundrechts dürfe der Tatrichter bei der Beurteilung einer Frage, die spezielles Fachwissen voraussetzt, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn der Spruchkörper eigene besondere Sachkunde tatsächlich auszuweisen vermag.

Berufungsgericht muss erneut entscheiden

Der BGH hat den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen. Der Senat hat das Berufungsgericht vorsorglich für den Fall, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens die von der Vorinstanz angenommene Erwerbsfähigkeit des Geschädigten ganz oder teilweise bestätigen würde, darauf hingewiesen, dass die Darlegungslast für die mögliche Höhe fiktiver Einkünfte des Geschädigten beim Schädiger liegt.

(BGH, Urteil v. 12.3.202, VI ZR 283/21).

Schlagworte zum Thema:  Recht, Bundesgerichtshof (BGH), Schadensersatz