Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO sind zu bejahen, wenn bei der summarischen Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechende Gründe zutagetreten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken.

 

Normenkette

FGO § 69

 

Tatbestand

Das Finanzamt (FA) erließ im Wege der Nachfeststellung gemäß § 12 a Abs. 4 GrStG in der Fassung des § 172 Nr. 1 a des Bundesbaugesetzes vom 23. Juni 1960 - BBauG - (BGBl I S. 341) einen Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheid; in diesem Bescheid stellte die Behörde (Bgin.) fest, das unbebaute Grundstück sei baureif. Gegen den Bescheid legte der Bf. Einspruch ein. Die Bgin. setzte die Entscheidung über den Einspruch auf Grund § 259 Abs. 2 AO a. F. mit Rücksicht auf die noch ausstehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Baulandsteuer aus.

Der Bf. nahm den Einspruch mit Schreiben vom 23. November 1965 zurück, nachdem ihm die Bgin. auf Grund einer Weisung der obersten Landesfinanzbehörde mit Schreiben vom 16. November 1965 folgendes mitgeteilt hatte;

"Nach der Entschließung des Bundesministers der Finanzen vom 24. 9. 1965 hat das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerden über die Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Baulandsteuer (§§ 12 a bis 12 c sowie § 21 Abs. 3 des Grundsteuergesetzes i. d. F. des § 172 des BBauG) nunmehr im Vorprüfungsverfahren nach § 93 a BVerfGG abgelehnt. Soweit neben den Verfassungsbeschwerden noch Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG beim Bundesverfassungsgericht zu dem gleichen Fragenkomplex anhängig waren, sind die entsprechenden Vorlagen auf Anregung des Bundesverfassungsgerichts aufgehoben und zurückgenommen worden. Damit haben alle verfassungsgerichtlichen Verfahren zur Baulandsteuer ihr Erledigung gefunden. Sie haben die Einlegung des Rechtsmittels gegen den ergangenen Baulandsteuerbescheid mit der Verfassungswidrigkeit begründet. Ihrem Antrag auf Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch nach § 259 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung wurde stattgegeben.

Da das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerden abgelehnt hat, muß das Finanzamt Ihren Einspruch als unbegründet zurückweisen.

..." Mit Schreiben vom 28. Februar 1966 erklärte der Bf., er fechte die Rücknahme des Einspruchs an; er sei durch die ihm vom FA erteilte fehlerhafte Rechtsbelehrung zur Rücknahme veranlaßt worden. Nach einem Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - (III 16/65 U vom 17. Dezember 1965, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 84 S. 368 - BFH 84, 368 -, BStBl III 1966, 132) müsse die Vollziehung von Bescheiden ausgesetzt werden, in denen für Zwecke der sogenannten Baulandsteuer festgestellt werde, daß ein Grundstück baureif sei. Er beantrage, die Vollziehung des angefochtenen Bescheids auszusetzen. Das FA lehnte dies ab, da die Rücknahme des Einspruchs wirksam sei, komme Aussetzung der Vollziehung nach § 242 AO nicht in Betracht.

Hierauf erhob der Bf. Klage zum Finanzgericht (FG) mit dem Antrag, festzustellen, daß sein Einspruch nicht zurückgenommen sei. Da die Gemeinde die rückständige Baulandsteuer für die Jahre 1961 und 1962 im Jahre 1966 von ihm gefordert habe, beantragte er weiter, die Vollziehung des Grundsteuermeßbescheides ohne Sicherheitsleistung bis zur Entscheidung über die Klage auszusetzen.

Das FG wies den Aussetzungsantrag zurück. Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde verfolgt der Bf. sein bisheriges Begehren weiter. Er habe erst aus dem Urteil des BFH III 16/65 U, a. a. O., entnommen, daß die durch das Schreiben des FA in ihm erweckte Vorstellung, das BVerfG habe materiell über die Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Baulandsteuer entschieden, irrig gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist begründet. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO soll das Gericht auf Antrag des Abgabepflichtigen die Vollziehung aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen.

I. - Der Gesetzeswortlaut stellt klar, daß der Verwaltungsakt, dessen Vollziehung ausgesetzt werden soll, angefochten sein muß. Sowohl Abs. 1 als auch Abs. 2 Satz 2 der Vorschrift beziehen sich ausdrücklich auf angefochtene Verwaltungsakte.

Im Streitfall liegt ein angefochtener Verwaltungsakt vor. Die vom Bf. eingereichte Feststellungsklage ist in Wahrheit eine Anfechtungsklage in der Form der sogenannten Untätigkeitsklage (§ 46 FGO). Der Bf. wendet sich mit der Klage dagegen, daß das FA den von ihm gegen den Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheid vom 29. April 1963 eingelegten Einspruch als erledigt betrachtet, weil er den Einspruch zurückgenommen habe. Mit der Klage begehrt der Bf. eine Entscheidung nicht nur über die Zulässigkeit des Einspruchs sondern auch über die Rechtmäßigkeit des mit dem Einspruch angefochtenen Bescheids.

Mit der "Anfechtung" machte der Bf. in Wahrheit geltend, die Einspruchsrücknahme sei wegen unzulässiger Willensbeeinflussung unwirksam. Auf das Schreiben des FA vom 15. März 1966, in dem die Behörde zum Ausdruck brachte, daß der Bf. infolge der Rücknahmeerklärung seines Rechtsmittels verlustig gegangen sei (§ 253 AO a. F.), hielt der Bf. an seiner Auffassung fest und brachte zum Ausdruck, daß er die "Anfechtung" aufrechterhalte und die Aussetzung der Vollziehung begehre. Entgegen der allgemeinen Meinung (vgl. Hübschmann-Hepp-Spitaler, Reichsabgabenordnung, § 253 AO a. F., Anm. 5 a E.; Mattern-Messmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 2123; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2. Aufl., § 253 AO a. F., Anm. 4) entschied hierauf das FA über den Streit um die Wirksamkeit der Rücknahme des Einspruches nicht in dem als anhängig geblieben geltenden Einspruchsverfahren. Es beschied vielmehr den Bf. mit Schreiben vom 18. April 1966, daß es seinen Anträgen nicht entsprechen könne, weil die Rücknahme des Einspruches wirksam und die Anfechtung der Rücknahmeerklärung nicht möglich sei. Aus dieser äußerung konnte der Bf. schließen, daß das FA über den Einspruch (auch über die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung) nicht entscheiden werde.

Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Klage abweichend von § 44 FGO ohne vorherigen Abschluß des Vorverfahrens zulässig, wenn über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden wurde. Da das FA es in Verkennung der Rechtslage ablehnte, über den Einspruch (mithin über die Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme) zu entscheiden, erfüllt die Klage des Bf. insoweit die Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO. Sie ist, da der Bf. seine Rechte durch Anfechtungsklage verfolgen kann, als Feststellungsklage nicht zulässig (§ 41 Abs. 2 FGO). Da der Bf. mit der auf Feststellung der Unwirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme gerichteten Klage das Ziel verfolgt, den nach Ansicht des FA unanfechtbar gewordenen Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheid auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen, ist die Klage als Anfechtungsklage zu qualifizieren. Die unrichtige Bezeichnung der Klage ist unschädlich; es ist Sache des Vorsitzenden des Gerichts der Hauptsache, im Rahmen des § 76 Abs. 2 FGO auf Klarstellung hinzuwirken.

Gegen die Behandlung der Klage als Anfechtungsklage im Sinne des § 46 FGO spricht es nicht, daß sie nach Ablauf der Frist des Abs. 2 dieser Bestimmung erhoben wurde. Die Jahresfrist des § 46 Abs. 2 FGO gilt nicht, weil die Klage wegen der besonderen Verhältnisse des vorliegenden Falles vor Ablauf dieser Frist nicht eingereicht werden konnte. Die Entscheidung über den Einspruch war mit Rücksicht auf die beim BVerfG anhängig gewesenen Verfahren ausgesetzt. Ein Anlaß zur Erhebung der Klage bestand für den Bf. erst, als das FA im Schreiben vom 18. April 1966 zum Ausdruck brachte, daß es das Einspruchsverfahren als erledigt betrachte, weil der Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheid infolge der Rechtsmittelrücknahme unanfechtbar geworden sei. Die Klage reichte der Bf. hiernach unverzüglich (am 21. April 1966) beim FG ein.

II. - Entgegen der Auffassung der Vorinstanz bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheides.

Nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 16, 1954, Sp. 996 ff. (Stichwort Zweifel) bezeichnet Zweifel den Zustand des Menschen, gespaltenen, zweigeteilten Sinnes zu sein; die Grundbedeutung der Zweiheit trete als Ungewißheit angesichts zweier Möglichkeiten des Entscheidens oder Handelns hervor (vgl. auch Trübners Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, 1957, S. 534 f.). Der Zustand des Zweifels wird bei Grimm, a. a. O., beispielhaft u. a. umschrieben als

Unentschiedenheit bei der Bildung eines Urteils, wenn Gründe für und gegen zwei oder mehrere Urteile sprechen,

Unsicherheit in der Entscheidung über eine Frage, die positiv oder negativ beantwortet werden kann,

Unklarheit über die Beurteilung einer Frage, die sich nach Lage der Dinge nicht entscheiden läßt,

Schwierigkeiten oder Unmöglichkeit der einwandfreien Bestimmung eines Tatbestandes (besonders bei gerichtlichen Entscheidungen).

Diese Beispiele machen bezogen auf den hier auszulegenden § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO deutlich, daß Zweifel den Zustand der Unentschiedenheit, Unsicherheit und Unklarheit bezeichnen soll, der bei der überprüfung der tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen eines Verwaltungsaktes mit dem Ziel, die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit festzustellen, auftreten kann.

Gesetzliche Voraussetzung für die Aussetzung der Vollziehung ist jedoch nicht nur das Vorliegen eines Zweifels; es muß sich um einen ernstlichen Zweifel handeln.

Nach dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 3, 1862, Sp. 923 (Stichwort Ernst) bezeichnet "Ernst" das wirklich Gemeinte, Wahre, Feste und Eifrige, im Gegensatz zu Scherz und Spaß; im gleichen Sinne sind (a. a. O., Sp. 928) die Belege zum Stichwort "ernstlich" zu verstehen, das begrifflich nicht umschrieben ist. In Trübners Deutschem Wörterbuch, Bd. 2, 1940, S. 232 (Stichwort Ernst) wird das Adjektiv "ernstlich" in dem Sinne gedeutet, daß es eine Verstärkung zum Ausdruck bringe. Diese Deutung, die sich der Senat zu eigen macht, steht im Einklang mit den bei Grimm, a. a. O., gewählten Umschreibungen.

Der Zustand des Zweifels als solcher im Sinne der Unentschiedenheit, Unsicherheit oder Unklarheit bei der Prüfung, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig sei, ist jedoch seiner Intensität nach mit Hilfe des Verstandes weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht meßbar. Abstufungen in dieser Hinsicht sind einer rationalen Kontrolle entzogen. Meßbar auf ihr Gewicht sind nur die Faktoren, die Anlaß zum Zweifel geben.

"Ernstliche Zweifel" im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen hiernach vor, wenn bei der Prüfung des angefochtenen Verwaltungsaktes im Aussetzungsverfahren in rechtlicher oder in tatsächlicher Hinsicht neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken.

Das Ergebnis der Wortauslegung steht im Einklang mit dem Zweck der Vorschrift. Die Aussetzung der Vollziehung soll - bis zur Entscheidung über die Hauptsache - vorläufigen Rechtsschutz in der Weise gewähren, daß die Verwirklichung der angefochtenen hoheitlichen Regelung gehemmt wird, um die rechtlich schutzwürdigen Interessen des Rechtssuchenden nicht vor Abschluß des Verfahrens über die Hauptsache schwerwiegend zu beeinträchtigen. Da nach der AO (§ 242 Abs. 1) und nach der FGO (§ 69 Abs. 1) Rechtsbehelfe grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben, soll durch eine vorläufige Maßnahme verhindert werden, daß der durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) garantierte Rechtsschutz zu spät oder gar nicht verwirklicht werden kann. Ein solcher vorläufiger Rechtsschutz kann - von der hier nicht zu prüfenden zweiten Alternative des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO abgesehen - nur dann in Betracht kommen, wenn ein nicht nur geringer Grad von Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist und somit nicht nur geringfügige Aussichten bestehen, daß der Rechtsbehelf Erfolg haben kann. Nach dem Gesetzeswortlaut kommt es zwar für die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung auf die Erfolgsaussichten der Klage nicht an (vgl. Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 80, Anm. E 3 d). Soll jedoch nach § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen, so setzt der Gesetzgeber damit überlegungen voraus, die Beziehung zum Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache haben.

Nach der Rechtsprechung zu § 251 AO a. F. (vgl. die Nachweise bei Mattern-Messmer, a. a. O., Tz. 2070; Tipke-Kruse, a. a. O., § 251 AO a. F. Anm. 4) ist die Frage, ob ausgesetzt werden kann, in einem summarischen Verfahren zu prüfen. Diese Auffassung hat der II. Senat des BFH (Beschluß II S 23/66 vom 15. Juni 1966, BFH 86, 316, BStBl III 1966, 467) auch für die Aussetzung der Vollziehung im Sinne des § 69 FGO beibehalten. Ihr ist zuzustimmen.

Da ausgesetzt werden soll, wenn ernstliche Zweifel bestehen, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist, muß die Prüfung nur soweit reichen, bis feststeht, ob gewichtige Gründe gegen die Rechtmäßigkeit sprechen, die nicht durch für die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe ausgeräumt werden können. Nach dieser Prüfung verbleibende Zweifel brauchen nicht geklärt zu werden; sie dürfen aber auch nicht geklärt werden, weil es für die Aussetzungsentscheidung hierauf nicht ankommt. Diese Entscheidung und die Funktion der Aussetzung der Vollziehung als Ersatz für den nicht ipso jure eintretenden Suspensiveffekt machen deutlich, daß an die Prüfung der Tat- und Rechtsfrage nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden, wie im Verfahren über die Hauptsache.

III. - Nach dem vorstehenden Auslegungsergebnis kann im Streitfall die Aussetzung der Vollziehung nicht verwehrt werden. Es bestehen ernstliche Zweifel, ob der angefochtene Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheid rechtmäßig ist. Auf diese Zweifel kommt es indessen nur an, wenn auch ernstliche Zweifel in der Hinsicht bestehen, ob der Bescheid unanfechtbar geworden oder die Erklärung über die Rücknahme des Einspruchs wegen unzulässiger Willensbeeinflussung unwirksam gewesen ist. Die Aussetzung der Vollziehung käme trotz der Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Baulandsteuer nicht in Betracht, wenn feststände, daß der Bf. seinen Einspruch wirksam zurückgenommen hat. In diesem Falle dürfte der Bescheid, weil unanfechtbar geworden, auf seine Rechtmäßigkeit nicht mehr überprüft werden.

Da über die Wirksamkeit der Rücknahme im Verfahren über die Hauptsache zu befinden ist, muß der Senat prüfen, ob ernstliche Zweifel daran bestehen, daß der Bf. seines Einspruches verlustig gegangen ist, weil er diesen wirksam zurückgenommen hat. Der Prüfungsmaßstab der ernstlichen Zweifel gilt zwar nach dem Gesetzeswortlaut nur hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts. Für den Fall, daß zweifelhaft ist, ob dieser Verwaltungsakt noch sachlich überprüft werden kann, weil der gegen ihn gerichtete Rechtsbehelf möglicherweise unzulässig ist, fehlt es an einer gesetzlichen Regel. Die Gleichheit der Interessenlage erlaubt und gebiete es jedoch nach Ansicht des Senats, den gesetzlichen Prüfungsmaßstab analog auch für diese Frage anzuwenden.

Es ist ernstlich zweifelhaft, ob - wie das FA und das FG annahmen - der Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheid unanfechtbar geworden ist. Nach der Rechtsprechung des BFH (vgl. die Nachweise bei Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 253 AO a. F., Anm. 5; Mattern-Messmer, a. a. O., Tz. 2120; Tipke-Kruse, a. a. O., § 253 AO a. F. Anm. 3) ist eine Rücknahmeerklärung unwirksam, die auf einer Belehrung beruht, die zur Zeit ihrer Erteilung objektiv unrichtig war.

Im vorliegenden Falle ergeben sich Gründe, die für und solche, die gegen die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung sprechen. Jedoch ist das Gewicht der Argumente, die gegen die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung sprechen, erheblich. Der angefochtene Beschluß läßt nicht erkennen, daß sich die Vorinstanz mit solchen Argumenten befaßt hat. Im Aussetzungsverfahren, für das angesichts der gebotenen summarischen Prüfung eine eingehende Auseinandersetzung mit den für und gegen die Wirksamkeit sprechenden Argumenten nicht erforderlich ist, kann eine eindeutige Lösung der im Verfahren über die Hauptsache zu entscheidenden Frage nicht gefunden werden.

Das Schreiben des FA, das den Bf. nach seiner Darstellung veranlaßte, den Einspruch zurückzunehmen, beruhte auf eine Weisung der obersten Landesfinanzbehörde. Diese Weisung hatte einen ähnlichen Wortlaut wie die Entschließung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 29. November 1965 (I B 4 - 3023 - 7/1), nach der die Verwaltungsbehörden davon auszugehen hatten, daß die Erhebung der Baulandsteuer für 1961 und 1962 mit dem GG vereinbar sei, da mit einer Entscheidung des BVerfG nicht mehr zu rechnen sei. Einwendungen hiergegen sind in der Fragestunde der 18. Sitzung des Deutschen Bundestages am 9. Februar 1966 (Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, 18. Sitzung vom 9. Februar 1966, S. 719) erörtert worden. Der Vertreter der Bundesregierung räumte dabei ein, die Fassung dieser Entschließung sei nicht ganz unmißverständlich.

Die Aufsichtsbehörde des FA geht anscheinend nunmehr davon aus, daß es zweifelhaft sein kann, ob die durch die formularmäßig hergestellten Schreiben der Finanzämter veranlaßten Rücknahmen der Einsprüche in Baulandsteuersachen zur Unanfechtbarkeit der Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheide geführt haben. In einem zu den Senatsakten gegebenen Erlaß der obersten Landesfinanzbehörde heißt es u. a.:

"Es kann m. E. vorläufig dahingestellt bleiben, ob die Vorwürfe, die gegen die mit ... mitgeteilte Auskunft des BdF erhoben wurden, berechtigt sind. über die Frage der Wirksamkeit der Zurücknahme der Rechtsbehelfe braucht erst entschieden zu werden, wenn eine Sachentscheidung des BVerfG vorliegt oder feststeht, daß mit einer Sachentscheidung nicht mehr zu rechnen ist. Damit die Fälle, in denen die Unwirksamkeit der Zurücknahme der Rechtsbehelfe gemacht wird, nicht in Vergessenheit geraten, bitte ich, sie vormerken zu lassen. Die Steuerpflichtigen bitte ich entsprechend zu verständigen."

Für die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung könnte der vom FG hervorgehobene Umstand sprechen, der Hinweis auf § 93 a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) besage, daß dieses Gericht aus irgendeinem der in dieser Vorschrift genannten Gründe - formwidrige, unzulässige, verspätete, offensichtlich unbegründete oder von einem offensichtlich nicht Berechtigten erhobene Verfassungsbeschwerde - die Annahme der Verfassungsbeschwerden abgelehnt haben könne. Das FG hat in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, der Bf., der von Beruf Amtsgerichtsdirektor sei, hätte dies ohne weiteres aus dem Gesetzestext entnehmen können. Ferner war die Vorinstanz der Ansicht, der Bf. hätte auf Grund seiner juristischen Vorbildung erkennen können, der Hinweis des FA, es werde den Einspruch als unbegründet zurückweisen, könne bedeuten, die Behörde habe gegen die Baulandsteuer keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Es braucht im Streitfall nicht erörtert zu werden, ob von einem juristisch Vorgebildeten verlangt werden muß, sich um die Auslegung eines behördlichen Schreibens zu bemühen. Der Meinung des FG könnte entgegengehalten werden, behördliche Schreiben müßten allgemein so abgefaßt sein, daß ihr Inhalt für den Leser ohne weiteres verständlich sei. Die Frage kann jedoch offen bleiben. Wenn man den Gedankengang des FG als richtig unterstellt, so muß doch berücksichtigt werden, daß auch gewichtige Gründe dafür sprechen, daß die Ausführungen des FA im Schreiben vom 16. November 1965 geeignet waren, irrige Vorstellungen in dem Bf. zu erwecken, die ihn zur Rücknahme des Einspruchs bewegten. Aus dem Text des Schreibens ist nicht ersichtlich, daß das BVerfG sachlich über die Verfassungsmäßigkeit der Baulandsteuer nicht entschieden hat. Die Behörde stellte dem Bf. anheim, den Einspruch zurückzunehmen, nachdem sie im vorhergehenden Absatz des Schreibens dargelegt hatte, sie müsse den Einspruch als unbegründet zurückweisen, da das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerden abgelehnt habe. Die gedankliche Verbindung des Verhaltens des BVerfG mit der Absicht, den Einspruch als unbegründet zurückzuweisen, konnte den Eindruck entstehen lassen, das BVerfG habe sich in einer Weise zur Baulandsteuer geäußert, die dem Bf. ungünstig sei; dafür könnte auch der Satz sprechen, dem das FG in der die Aussetzung ablehnenden Entscheidung offenbar kein Gewicht zugemessen hat, die Vorlagebeschlüsse seien auf Anregung des BVerfG von den vorlegenden Gerichten aufgehoben und zurückgenommen worden.

In dem zu § 251 AO a. F. ergangenen, die Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Baulandsteuer betreffenden Urteil III 16/65 U a. a. O., an dem festgehalten wird, ist der Senat in übereinstimmung mit dem Urteil des BVerfG 1 BvR 314/60 vom 21. Februar 1961, Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht 12, 180, BStBl I 1961, 63, davon ausgegangen, daß ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes die Aussetzung der Vollziehung rechtfertigen. In dem genannten Urteil, auf das zur Vermeidung von Wiederholungen hingewiesen wird, sind im einzelnen die Gesichtspunkte dargelegt, die gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 12 a GrStG sprechen können. Diese Gesichtspunkte haben den Senat zu der Ansicht gebracht, es bestünden ernste Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Baulandsteuer. Diese Bedenken rechtfertigen die Feststellung, gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit des Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheids sprechende Gründe bewirkten Unsicherheit in der Entscheidung der Frage, ob dieser Bescheid rechtmäßig oder rechtswidrig sei.

IV. - Der I. und der II. Senat haben auf die wegen der Beschlüsse I B 20/66 vom 2. November 1966 und II S 23/66 vom 15. Juni 1966 (BFH 86, 316, BStBl III 1966, 467) an sie gerichteten Anfrage erklärt, sie stimmten der Auslegung des Begriffes "ernstliche Zweifel" durch den III. Senat zu.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412466

BStBl III 1967, 182

BFHE 1967, 447

BFHE 87, 447

StRK, FGO:69 R 13

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