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BGH Beschluss vom 23.03.2011 - XII ZB 51/11

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch des Berufungsführers bei beabsichtigter Verwerfung der Berufung als unzulässig

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der Berufungsführer vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist Prozesskostenhilfe beantragt und beabsichtigt das Gericht, Prozesskostenhilfe zu versagen, so hat es vor Verwerfung der Berufung als unzulässig über das Prozesskostenhilfegesuch zu entscheiden (im Anschluss an BGH Beschl. v. 3.12.2003 - VIII ZB 80/03, FamRZ 2004, 699).

 

Normenkette

ZPO §§ 114, 233, 522 Abs. 1 S. 4

 

Verfahrensgang

LG Nürnberg-Fürth (Beschluss vom 04.08.2010; Aktenzeichen 19 S 2606/10)

AG Erlangen (Urteil vom 08.02.2010; Aktenzeichen 2 C 1651/09)

 

Tenor

Dem Beklagten wird gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 19. Zivilkammer des LG Nürnberg-Fürth vom 4.8.2010 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der vorgenannte Beschluss aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 4.780 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Beklagte wendet sich gegen die Verwerfung seiner Berufung als unzulässig.

Rz. 2

Das AG hat den Beklagten u.a. zur Unterlassung verurteilt. Das Urteil ist dem Beklagten am 18.2.2010 zugestellt worden. Am 18.3.2010 hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten hiergegen Berufung eingelegt. Nachdem das LG die Frist zur Berufungsbegründung antragsgemäß bis zum 18.5.2010 verlängert hatte, hat der Prozessbevollmächtigte des Beklagten am 5.5.2010 das Mandat niedergelegt. Am 18.5.2010 hat der Beklagte beantragt, ihm "für die Vorlage der Berufungsbegründung" Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin W. beizuordnen. Ferner heißt es in dem Schreiben des Beklagten, dem der Entwurf einer Berufungsbegründung beilag, dass nach Beiordnung der Rechtsanwältin Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt werde. Mit Verfügung vom 27.5.2010 hat das LG u.a. darauf hingewiesen, dass die Berufungsbegründungsfrist seit dem 19.4.2010 abgelaufen sei und eine fristgemäß eingereichte Berufungsbegründung nicht vorliege, weshalb die Berufung als unzulässig zu verwerfen sein werde. Mit weiterer Verfügung vom 19.6.2010 wurde darauf hingewiesen, dass die Frist zur Berufungsbegründung am 18.5.2010 abgelaufen und somit versäumt sei. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe solle abschlägig verbeschieden werden, weil hierzu keine Unterlagen vorgelegt worden seien.

Rz. 3

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 4.8.2010 hat die Kammer schließlich die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen. Eine den Anforderungen des § 78 ZPO genügende Berufungsbegründung sei nicht bei Gericht eingegangen. Anderes ergebe sich nicht aus dem vom Beklagten gestellten Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe vom 18.5.2010. Der Beklagte habe längst Umstände erfahren, welche ein Vertrauen auf Bewilligung einer beantragten Prozesskostenhilfe nicht rechtfertigten.

Rz. 4

Mit Beschluss vom 16.9.2010 hat die Kammer den Antrag des Beklagten vom 18.5.2010 auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Zwar habe sich die Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Beklagten - entgegen dem unzutreffenden Hinweis vom 19.6.2010 - zum Zeitpunkt der Antragstellung in der Akte befunden. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung biete jedoch keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil der Beklagte innerhalb der bis zum 18.5.2010 laufenden Berufungsbegründungsfrist keine den Anforderungen des § 78 ZPO genügende, das heißt eine von einem Rechtsanwalt unterzeichnete Berufungsbegründung eingereicht habe.

Rz. 5

Gegen den Beschluss vom 4.8.2010 wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde, für deren Einlegung und Begründung er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt hat, nachdem der Senat ihm Prozesskostenhilfe für die einzulegende Rechtsbeschwerde bewilligt hat.

II.

Rz. 6

Dem Beklagten war gem. § 233 ZPO antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.

Rz. 7

1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist gem. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen gem. § 574 Abs. 2 ZPO zulässig. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Das Beschwerdegericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht des Antragstellers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BGH v. 2.4.2008 - XII ZB 189/07, FamRZ 2008, 1338 Rz. 8 m.w.N.; s. auch BGH v. 6.10.2010 - XII ZB 22/10, FamRZ 2011, 30 Rz. 5).

Rz. 8

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Beschwerdegericht hätte die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verwerfen dürfen, dass bis zum Fristablauf am 18.5.2010 keine den Anforderungen des § 78 ZPO genügende Berufungsbegründung bei Gericht eingegangen sei. Denn der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 18.5.2010 Prozesskostenhilfe für die Erstellung einer Berufungsbegründung sowie Beiordnung eines Anwaltes beantragt und einen entsprechenden Wiedereinsetzungsantrag angekündigt.

Rz. 9

a) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, so lange als ohne sein Verschulden an der rechtzeitigen Vornahme einer Frist wahrenden Handlung - wie hier die Berufungsbegründung - verhindert anzusehen, als er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags rechnen musste, weil er sich für bedürftig i.S.d. §§ 114 ff. ZPO halten durfte und aus seiner Sicht alles Erforderliche getan hatte, damit aufgrund der von ihm eingereichten Unterlagen ohne Verzögerung über sein Prozesskostenhilfegesuch entschieden werden konnte. Deshalb kann eine unbemittelte Partei, für die ein Anwalt zwar formularmäßig Berufung eingelegt hat, ohne sie zu begründen, die aber keinen Prozessbevollmächtigten hat, der gewillt ist, für sie weiter tätig zu werden, selbst am letzten Tag der Rechtsmittelbegründungsfrist noch ein Prozesskostenhilfegesuch einreichen. Die Berufung darf dann nicht mit dem Argument verworfen werden, dass innerhalb der Begründungsfrist noch keine Berufungsbegründung eingereicht worden sei (BGH Beschlüsse v. 27.9.2004 - II ZB 17/03, FamRZ 2005, 105 m.w.N.; v. 3.12.2003 - VIII ZB 80/03, FamRZ 2004, 699).

Rz. 10

Hat die Partei vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist Prozesskostenhilfe beantragt und beabsichtigt das Gericht, Prozesskostenhilfe zu versagen, so hat es zudem vor Verwerfung der Berufung als unzulässig über das Prozesskostenhilfegesuch zu entscheiden. Durch die gleichzeitige Verwerfung der Berufung als unzulässig und die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren wird die Durchführung des Berufungsverfahrens für die Partei in unzumutbarer Weise erschwert und dadurch der Anspruch der Partei auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verletzt. Denn die Partei muss im Falle der Versagung von Prozesskostenhilfe die Gelegenheit haben, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen, wenn sie beabsichtigt, das Berufungsverfahren auf eigene Kosten durch Begründung der Berufung fortzuführen (BGH Beschl. v. 3.12.2003 - VIII ZB 80/03, FamRZ 2004, 699).

Rz. 11

b) Diesen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht.

Rz. 12

Ohne über den Antrag auf Prozesskostenhilfe vom 18.5.2010 zu entscheiden, hat die Kammer die Berufung des Beklagten mit der Begründung als unzulässig verworfen, eine den Anforderungen des § 78 ZPO genügende Berufungsbegründung sei innerhalb der Frist nicht bei Gericht eingegangen. Dabei hat sie indes verkannt, dass der Beklagte innerhalb dieser Frist einen Antrag auf Prozesskostenhilfe und auf Beiordnung einer Prozessbevollmächtigten gestellt und einen Wiedereinsetzungsantrag angekündigt hat. Deshalb durfte das Berufungsgericht die Berufung nicht mit dieser Begründung verwerfen. Im Übrigen hätte es nach dem oben Gesagten vor Verwerfung der Berufung zunächst über den Prozesskostenhilfeantrag entscheiden und dem Beklagten damit die Möglichkeit einräumen müssen, das Berufungsverfahren auf eigene Kosten durch Begründung der Berufung durch einen Rechtsanwalt fortzuführen und einen Wiedereinsetzungsantrag zu stellen.

Rz. 13

Soweit das Berufungsgericht ausgeführt hat, der Beklagte habe längst Umstände erfahren, welche ein Vertrauen auf Bewilligung einer beantragten Prozesskostenhilfe nicht rechtfertigten, und damit wohl zum Ausdruck bringen wollte, dass ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keine Erfolgsaussicht hätte, kann ihm nicht gefolgt werden.

Rz. 14

Das Berufungsgericht hat ersichtlich die Hinweise vom 27. Mai und vom 19.6.2010 in Bezug genommen, die allerdings in den wesentlichen Punkten unzutreffend sind. So gründet der Hinweis vom 27.5.2010 maßgeblich darauf, dass die Berufungsbegründungsfrist bereits seit dem 19.4.2010 abgelaufen sei. Tatsächlich ist die Berufungsbegründungsfrist erst am 18.5.2010 abgelaufen, weshalb der an diesem Tag bei Gericht eingegangene Prozesskostenhilfeantrag des Beklagten noch rechtzeitig erfolgt war. In der Verfügung vom 19.6.2010 wird auf die fehlenden Prozesskostenhilfe-Unterlagen hingewiesen. Tatsächlich hatte der Beklagte die Prozesskostenhilfeunterlagen mit Antragstellung zur Akte gereicht (vgl. Beschluss des Beschwerdegerichts vom 16.9.2010). Soweit es in dem Hinweis heißt, der Beklagte habe nicht nachvollziehbar vorgetragen, warum die Frist versäumt worden sei, wurde die vorgenannte Rechtsprechung verkannt.

Rz. 15

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass mit der Zustellung dieses Beschlusses die Wiedereinsetzungsfrist hinsichtlich der abgelaufenen Berufungsbegründungsfrist zu laufen beginnt (§ 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Dem Beklagten bleibt es unbenommen, erneut Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zu beantragen.

 

Fundstellen

EBE/BGH 2011

FuR 2011, 396

NJW-RR 2011, 995

ZAP 2011, 976

MDR 2011, 748

FF 2011, 219

FF 2011, 333

PA 2011, 152

Mitt. 2011, 385

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