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BFH Urteil vom 29.08.1962 - II 75/59 U

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Grunderwerbsteuer/Kfz-Steuer/sonstige Verkehrsteuern

 

Leitsatz (amtlich)

Im Sinne des § 1 Ziff. 1, § 4 des niedersächsischen Gesetzes über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaues von der Grunderwerbsteuer vom 2. Juli 1952 kann vom Erwerb eines unbebauten Grundstücks auch dann gesprochen werden, wenn der Erwerber das auf dem Grundstück vorhandene Gebäude nahezu vollständig abreißt. Voraussetzung ist, daß der Erwerber beim Erwerb des Grundstücks die Absicht hatte, das Gebäude ganz abzureißen, der vollständige Abriß des Gebäudes aber später infolge zwingender Umstände ausgeschlossen war.

GrEStG § 1 Abs. 1 Ziff. 1; niedersächsisches Gesetz über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaues

 

Normenkette

GrEStG § 1 Abs. 1 Ziff. 1; GrEStWGND 1/1; GrEStWGND 4

 

Tatbestand

Der Bf. erwarb durch notariell beurkundeten Vertrag vom 21. Juni 1955 ein Grundstück für 29.185,71 DM. Er beantragte, den Erwerbsvorgang gemäß § 1 Ziff. 1, § 4 des niedersächsischen Gesetzes über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaues von der Grunderwerbsteuer vom 2. Juli 1952 (Niedersächsisches GVBl 1952 S. 53, BStBl 1952 II S. 74) steuerfrei zu stellen. Es handle sich um ein kriegszerstörtes Gebäude; er wolle auf dem Grundstück einen sozialen Wohnungsbau (zwölf Wohnungen) errichten (was inzwischen geschehen ist).

Das Finanzamt lehnte eine Steuerbefreiung ab. Es stellte fest, daß das Gebäude nicht völlig zerstört gewesen sei, daß vielmehr mehrere Mieter das Erd- und erste Obergeschoß als behelfsmäßige Wohnung hergerichtet und bewohnt hätten; die vorhandenen Gebäudeteile seien auch nicht abgerissen, sondern bei der Errichtung des Neubaus mit verwendet worden. Demgemäß setzte das Finanzamt eine Grunderwerbsteuer von 2.042,95 DM fest.

Demgegenüber machte der Bf. geltend, das Grundstück sei im Kriege durch Brandbomben so stark zerstört worden, daß die Räume nicht bewohnbar gewesen seien. Die Mieter des Erd- und des ersten Obergeschosses hätten die Wohnungen lediglich behelfsmäßig wieder hergerichtet, um dort notdürftig Unterkunft zu finden. Diese Einbauten hätten zum größten Teil wieder abgerissen werden müssen, da die Aufteilung der Räume den Grundrissen der anderen Geschosse nicht entsprochen habe. Die Mieter hätten sich jedoch geweigert auszuziehen; sie hätten von der Stadt auch anderweitig nicht untergebracht werden können. Man habe daher zunächst den einen Teil des Neubaus hochgezogen, die Mieter seien dann in diesen Teil umquartiert worden; alsdann sei die andere Seite des Baus errichtet worden.

Der Neubau sei unter ganz untergeordneter Verwendung einzelner Mauerreste von Grund auf neu errichtet worden. Lediglich durch den Zwang, die Mieter in den Räumen zu belassen, sei er, der Bf., nicht in der Lage gewesen, die Ruine, wie er beabsichtigt hatte, ganz abzureißen.

Der Einspruch war erfolglos. Im Berufungsverfahren hat das Finanzgericht vom zuständigen Bauordnungsamt eine Auskunft über den Zustand des Gebäudes am 21. Juni 1955 eingeholt. Danach handelte es sich um ein fast völlig zerstörtes Wohnhaus. Im Jahre 1946 seien im Erd- und ersten Obergeschoß je zwei Wohnungen ausgebaut worden, die über dem ersten Obergeschoß mit einer Notbalkenlage und einem Notdach abgedeckt gewesen seien. über diesen Wohnungen hätten noch zwei Geschosse hoch die restlichen Ruinenteile gestanden. Die Stadt habe den Abbruch dieser höherstehenden Ruinenteile gefordert. Die Decke über dem ersten Obergeschoß habe erneuert werden müssen, so daß oberhalb der Erdgeschoßdecke kein auf die Dauer benutzbarer Raum mehr vorhanden gewesen sei. Auch im Erdgeschoß hätten die Decken der Küchen und Baderäume neu eingezogen werden müssen. Im übrigen seien die Erdgeschoßdecken zwar nicht vollkommen abgebrochen worden, hätten aber aus Standsicherheitsgründen durch Verstärkungen sowie Auswechseln und Anschuhen verschiedener Balken überholt werden müssen. Der Zustand sei so gewesen, daß aus Sicherheitsgründen für die Zeit dieser Arbeiten die Wohnungen hätten geräumt werden müssen. Für den Neubau seien außer den teilweise erhalten gebliebenen Umfassungswänden nur die Erdgeschoßdecken - wie vorstehend angegeben - verwendet worden.

Die Berufung wurde als unbegründet zurückgewiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. hat Erfolg.

Nach § 1 Ziff 1 des im Streitfall anwendbaren niedersächsischen Gesetzes vom 2. Juli 1952 ist von der Besteuerung ausgenommen:

"der Erwerb eines unbebauten oder völlig zerstörten Grundstücks zur Errichtung eines Gebäudes, das zu mehr als 80 vom Hundert Wohnungen oder Wohnräume enthält, die nach § 7 des Ersten Wohnungsbaugesetzes grundsteuerbegünstigt sind. Ein Gebäude gilt als zerstört, wenn oberhalb des Kellergeschosses auf die Dauer benutzbarer Raum nicht vorhanden ist".

Allerdings war der Senat in dem Urteil II 226/54 U vom 24. August 1955 (BStBl 1955 III S. 282, Slg. Bd. 61 S. 218) der Ansicht, daß ein teilweise wiederaufgebautes Gebäude nicht mehr als beschädigt im Sinne des § 1 Ziff. 3 des nordrhein-westfälischen Gesetzes über Grunderwerbsteuerbefreiung für den Wohnungsbau vom 4. März 1952 angesehen werden könne. In gleichem Sinn hat der Senat durch Urteil II 60/55 U vom 24. August 1955 (BStBl 1955 III S. 282, Slg. Bd. 61 S. 219) zu der angeführten Vorschrift des niedersächsischen Gesetzes vom 2. Juli 1952 entschieden.

Eine andere Frage ist, ob ein Grundstück, wenn ein darauf stehendes Gebäude abgerissen wird, als "unbebaut" im Sinne des vorbezeichneten niedersächsischen Gesetzes vom 2. Juli 1952 angesehen werden kann. Dies ist vom Senat in dem vorerwähnten Urteil II 60/55 U vom 24. August 1955 (siehe oben) bejaht worden. An dieser Auffassung hat der Senat im Urteil II 254/58 U vom 15. Juni 1960 (BStBl 1960 III S. 315, Slg. Bd. 71 S. 179), das nordrhein-westfälische Gesetz vom 4. März 1952 betreffend, festgehalten. Ebenso hatte der Reichsfinanzhof durch Urteil II 58/42 vom 6. August 1942 (RStBl 1942 S. 1076, Slg. Bd. 52 S. 124) zu § 4 Abs. 1 Ziff. 3 b GrEStG entschieden. In diesem Falle stellte das Grundstück, das erworben wurde, bei wörtlicher Anwendung der bezeichneten Vorschrift kein Bauland dar, weil es mit einem Siedlungshaus bebaut war. Dennoch wurde das in Tausch gegebene Grundstück als Bauland im Sinne der Befreiungsvorschrift angesehen, weil das Siedlungshaus - das Gebäude lag inmitten eines dem Erwerber gehörenden, für einen umfangreichen Neubau bestimmten Baugeländes - nach der Absicht des Erwerbers alsbald abgerissen werden sollte. Im Urteil II 128/58 U vom 14. Juni 1961 (BStBl 1961 III S. 506, Slg. Bd. 73 S. 658) hat der Senat die Befreiungsvorschrift des § 1 Ziff. 1 des nordrhein-westfälischen Gesetzes vom 4. März 1952 auch auf Fälle ausgedehnt, in denen die auf dem Grundstück errichteten Gebäude weder baufällig sind, noch ihr Abbruch behördlich gefordert wird, aber dennoch abgebrochen werden sollen, um sie, neuzeitlichen Auffassungen entsprechend, durch moderne Wohngebäude zu ersetzen, vorausgesetzt, daß im Ergebnis mehr Wohnraum neu geschaffen als vernichtet wird.

Im Hinblick auf die angeführte Rechtsprechung sieht der Senat keine Bedenken, grundsätzlich zu bejahen, daß im Streitfall ein unbebautes Grundstück im Sinn des § 1 Ziff. 1 des niedersächsischen Gesetzes vom 2. Juli 1952 angenommen werden kann.

Hinderungsgrund für die Anwendung der angeführten Rechtsprechung könnte allerdings sein, daß das Gebäude infolge der besonderen Verhältnisse nicht völlig abgerissen werden konnte. Dem Bf. ist ohne weiteres zu glauben, daß er beim Erwerb des Grundstücks die Absicht hatte, das Gebäude ganz abzureißen. Anzunehmen ist auch, wie er ausführt, daß völliger Abriß des Gebäudes und sich daran anschließende Wiederbebauung billiger gewesen wäre als etappenweiser Abriß und etappenweiser Wiederaufbau. Dem Bf. ist auch zu glauben, daß er sich mit dieser Baumaßnahme nur widerstrebend abgefunden hat und daß er lediglich durch die Widerstände, die die Mieter bereiteten und die er beim Erwerb des Grundstücks nicht voraussah, zu einer Planänderung veranlaßt wurde. Unter diesen besonderen Voraussetzungen (d. h. dann, wenn das Gebäude nahezu vollständig abgerissen wurde, der völlige Abriß aber infolge zwingender Umstände ausgeschlossen war) kann angenommen werden, daß es im Sinn der bezeichneten Befreiungsvorschrift liegt, ihre Anwendung gleichfalls zu bejahen.

Dagegen, daß die sonstigen Voraussetzungen für die Anwendung der Befreiungsvorschrift gegeben sind, bestehen keine Bedenken.

Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben, und, da die Sache spruchreif ist, der Bf. unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung und des Steuerbescheids von der Steuer freizustellen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410574

BStBl III 1962, 540

BFHE 1963, 754

BFHE 75, 754

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