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BFH Urteil vom 03.05.1963 - II 53/61 U

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ist ein vorläufiger Steuerbescheid rechtskräftig geworden, so sind spätere Einwendungen des Steuerpflichtigen gegen die Voraussetzungen der "Vorläufigkeit" im Sinne des § 100 AO ausgeschlossen.

 

Normenkette

AO §§ 100, 225

 

Tatbestand

Zu entscheiden ist die Rechtsfrage, ob im Berufungsverfahren gegen einen nach § 225 AO berichtigten Steuerbescheid geprüft werden kann, ob der der Berichtigung zugrunde liegende Steuerbescheid zu Recht als vorläufiger erlassen werden durfte.

Die Bfin. hat durch notariellen Vertrag vom ... 1957 ein Grundstück mit einem darauf stehenden Wohngebäude in X. für einen Gesamtkaufpreis von 52.000 DM gekauft. Nach diesem Vertrag entfielen von dem Gesamtkaufpreis auf das Grundstück nebst Gebäude 43.600 DM und auf das Inventar und die Einrichtung der Zimmer 8.400 DM. Mit Schreiben vom 25. März 1957 hat der beurkundende Notar dem Finanzamt mitgeteilt, daß die erforderlichen Genehmigungen bei ihm eingegangen seien, und um Zusendung der Unbedenklichkeitsbescheinigung gebeten. Das Finanzamt hat mit Schreiben vom 30. März 1957 von der Bfin. eine genaue Aufstellung des erworbenen Inventars und seines Wertes erbeten. Mit Schreiben vom 31. Mai 1957 hat das Finanzamt diese Bitte wiederholt. Nachdem das Finanzamt auf beide Schreiben von der Bfin. keine Antwort erhalten hatte, hat es die Grunderwerbsteuer durch eine "Vorläufige Steuerfestsetzung" vom 19. Juli 1957 auf 3.052 DM festgesetzt. Es ist dabei entsprechend den Angaben im Kaufvertrag von einer Bemessungsgrundlage von 43.600 DM ausgegangen. In den Erläuterungen zur Steuerfestsetzung hat das Finanzamt bemerkt:

"Der endgültige Bescheid ergeht nach Einreichung des mit Schreiben vom 30. März 1957 angeforderten Inventarverzeichnisses mit Einzelbewertung und überprüfung der Werte des miterworbenen Inventars."

Dieser vorläufige Steuerbescheid ist rechtskräftig geworden.

Ohne weitere Aufforderung hat die Bfin. dem Finanzamt am 4. September 1957 eine Aufstellung über das miterworbene Inventar übersandt. Nach vorheriger Verständigung der Bfin. hat der Sachbearbeiter des Finanzamts in Gegenwart einer Bevollmächtigten der Bfin. am 25. Juni 1959 die erworbenen Gegenstände besichtigt und zum überwiegenden Teil niedriger bewertet. Er hat den Wert des Inventars auf 3.433 DM geschätzt. Mit gemäß § 225 AO berichtigtem Steuerbescheid hat das Finanzamt die Grunderwerbsteuer endgültig auf 3.399,65 DM festgesetzt.

Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg. Die Bfin. hat in den Vorinstanzen u. a. geltend gemacht, daß im Streitfall die Voraussetzungen für den Erlaß eines vorläufigen Steuerbescheides nach § 100 Abs. 1 AO nicht vorgelegen hätten. Hieraus folge, daß eine Berichtigung dieses Bescheides nach § 225 AO nicht vorgenommen werden könne und der als vorläufig bezeichnete Bescheid als endgültiger behandelt werden müsse. Vor dem Finanzgericht hat die Bfin. angeregt, "über die Frage der rechtlichen Zulässigkeit des endgültigen Steuerbescheides gemäß § 284 Abs. 2 AO eine Zwischenentscheidung zu treffen", und in umfangreichen Ausführungen ausgeführt, warum nach ihrer Ansicht ein vorläufiger Bescheid nicht hätte ergehen dürfen.

Das Finanzgericht hat durch Zwischenentscheidung gemäß § 284 Abs. 2 AO vorab dahin entschieden, daß das Finanzamt berechtigt gewesen sei, eine vorläufige Steuerfestsetzung gemäß § 100 Abs. 1 AO vorzunehmen und diese nach Beseitigung der Ungewißheit gemäß § 225 AO durch eine endgültige Steuerfestsetzung zu ersetzen. In den Gründen hat die Vorinstanz ausgeführt, daß die Voraussetzungen für eine Zwischenentscheidung vorlägen, daß dem Begehren der Bfin. aber nicht stattgegeben werden könne, weil § 100 Abs. 1 AO eine Ermessensentscheidung des Finanzamts vorsehe und das Finanzamt von seinem Ermessen bei der Anwendung des § 100 AO richtigen Gebrauch gemacht habe.

Mit der Rb. rügt die Bfin. unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts, möglicherweise Aktenverstoß und mangelnde Sachaufklärung. In sachlicher Hinsicht wiederholt sie im wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Der gerügte Aktenverstoß ist dem Finanzgericht nicht zur Last zu legen. Aus den Akten geht hervor, daß das Finanzamt die Bfin. durch Schreiben vom 31. Mai 1957 daran erinnert hat, daß Inventarverzeichnis einzureichen. Das Finanzamt hatte in der Einspruchsentscheidung dieses Schreiben erwähnt. In der Vorinstanz hat die Bfin. dieser Tatsachendarstellung des Finanzamts nicht widersprochen. Für das Finanzgericht bestand kein Anlaß, unter diesen Umständen Ermittlungen anzustellen, ob das Erinnerungsschreiben an die Bfin. gelangt ist. Wegen der eingeschränkten Natur des Rechtsbeschwerdeverfahrens kann die Bfin. den in der Vorinstanz unterlassenen abweichenden Tatsachenvortrag nun nicht mehr nachholen. Im übrigen kommt es auf alles dies nicht an.

Sachlich ist der Vorentscheidung, wenn auch aus anderen Gründen als denen der Vorentscheidung, im Ergebnis zuzustimmen.

Zu Unrecht gehen die Bfin. und das Finanzgericht davon aus, daß in dem Rechtsmittelverfahren gegen einen endgültigen Steuerbescheid noch geltend gemacht werden könne, ein inzwischen rechtskräftig gewordener vorausgegangener vorläufiger Steuerbescheid habe nicht als solcher ergehen können. Diese Auffassung wurde von der älteren Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs vertreten. Der Reichsfinanzhof hat hierzu in dem Urteil VI A 230/31 vom 4. Februar 1931 (RStBl 1931 S. 291 und - vollständig - Steuer und Wirtschaft - StuW - 1931 Nr. 326 Sp. 550 ff.) ausgeführt, daß man einem Steuerpflichtigen nicht verwehren könne, sich im Rechtsmittelverfahren auf die Unzulässigkeit eines vorläufigen Bescheides zu berufen; denn ebenso wie die Nichtigkeit eines ganzen Bescheides, könne auch die Nichtigkeit eines Zusatzes geltend gemacht werden; wie aber ein nichtiger Bescheid nicht dadurch rechtswirksam werde, daß er nicht angefochten werde, könne dies auch nicht der nichtige Zusatz zu einem Bescheid werden. Mit dem Urteil VI A 156/35 vom 27. Mai 1936 (RStBl 1936 S. 793, Slg. Bd. 39 S. 316) hat der Reichsfinanzhof diese Rechtsprechung mit der Begründung aufgegeben, daß auch eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 91 Abs. 1 Satz 1 AO dadurch wirksam werde, daß sie dem Steuerpflichtigen zugehe. Komme der Steuerpflichtige zu der Auffassung, daß der Bescheid zu Unrecht für vorläufig erklärt worden sei, dann könne er ihn im ordentlichen Rechtsmittelverfahren anfechten. Die Rechtsmittelbehörde habe dann zu entscheiden, ob die Anordnung des Finanzamts gemäß § 100 AO sachlich berechtigt gewesen sei. Der Reichsfinanzhof hat damit nicht, wie die Bfin. annimmt, nationalsozialistisches Gedankengut in der Rechtsprechung verwertet, sondern er ist der Entwicklung der allgemeinen Verwaltungsrechtslehre gefolgt, der zufolge auch nach heutiger Rechtsansicht ein fehlerhafter Verwaltungsakt grundsätzlich nur vernichtbar, anfechtbar, aber nicht nichtig ist (vgl. Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts I B 49.53 vom 21. Januar 1954, Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bd. 1 S. 67, 69; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Band, 8. Aufl., 1961, S. 206; Turegg-Kraus, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 4. Aufl., 1962, S. 139; Wolff, Verwaltungsrecht I, 4. Aufl., 1961, S. 270, 277; Merk, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band S. 870 in Verbindung mit S. 877). Die Geltendmachung des dem Verwaltungsakt anhaftenden Mangels ist an das Rechtsmittel und die Rechtsmittelfrist gebunden. Wird diese versäumt, so wird der Fehler unbeachtlich und der Verwaltungsakt unanfechtbar (vgl. Forsthoff, a. a. O., S. 209; Turegg-Kraus, a. a. O., S. 140). Diese Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gelten auch für das Steuerrecht (Bescheid und Urteil des Bundesfinanzhofs IV 181/56 U vom 24. Juli / 4. Dezember 1958, BStBl 1959 III S. 203, 204, Slg. Bd. 68 S. 534). Ist daher, wie im Streitfall, ein vorläufiger Steuerbescheid rechtskräftig geworden, so schließt dies Einwendungen des Steuerpflichtigen gegen die Voraussetzungen der "Vorläufigkeit" im Sinne des § 100 AO aus (vgl. die Begründung des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 10/57 U vom 12. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 154, 156, Slg. Bd. 66 S. 401, 406). Zu Unrecht glaubt die Bfin. aus § 232 AO schließen zu müssen, daß sie sich im Rechtsmittelverfahren nicht gegen die Vorläufigkeit des Bescheids als solche wenden könne. Abgesehen davon, daß die Rechtsprechung diese Möglichkeit nie ausgeschlossen hat Vgl. Urteile des Reichsfinanzhofs VI A 242/22 vom 28. Februar 1923, Slg. Bd. 12 S. 30, und VI A 156/35 vom 27. Mai 1936, a. a. O.), würde sie für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) schon aus Art. 19 Abs. 4 GG folgen. Aus alledem geht hervor, daß in dem Rechtsmittelverfahren gegen den endgültigen Steuerbescheid nicht geltend gemacht werden kann, ein vorangegangener, rechtskräftig gewordener Steuerbescheid hätte nicht als vorläufiger ergehen dürfen. Entsprechend dem Antrag der Bfin. in der Vorinstanz hätte sich das Finanzgericht allerdings in dem Tenor seiner Zwischenentscheidung darauf beschränken müssen, auszusprechen, daß die Berichtigung des vorläufigen Steuerbescheids nach § 225 AO durch Erlaß eines endgültigen Steuerbescheids zulässig war. Soweit das Finanzgericht darüber hinaus entschieden hat, daß das Finanzamt berechtigt war, eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 100 Abs. 1 AO vorzunehmen, ist die Entscheidung in diesem Verfahren gegenstandslos. Da die Vorinstanz jedoch weiter zutreffend festgestellt hat, daß das Finanzamt berechtigt war, die Steuer gemäß § 225 AO endgültig festzusetzen, kann davon abgesehen werden, die Vorentscheidung aufzuheben. Sie ist vielmehr in ihrem allein entscheidungserheblichen Teil im Ergebnis zu bestätigen. Die Kostenentscheidung und die Feststellung des Wertes des Streitgegenstandes bleiben dem Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410814

BStBl III 1963, 389

BFHE 1964, 196

BFHE 77, 196

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