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BFH Beschluss vom 20.06.1974 - IV B 55-56/73

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Leitsatz (amtlich)

Nicht in jedem Falle, in dem das FG einen mit Erkrankung begründeten Antrag auf Terminsverlegung ablehnt, wird das rechtliche Gehör versagt.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurde, da er trotz Anmahnung keine Steuererklärungen abgab, vom Beklagten und Beschwerdegegner (FA) im Wege der Schätzung nach § 217 AO zur Einkommensteuer und Umsatzsteuer 1969 veranlagt. Hierbei ging das FA von einem gegenüber den Voranmeldungen um etwa 3 000 DM erhöhten Umsatz (insgesamt 16 000 DM) aus. Die festgesetzte Einkommensteuer betrug 706 DM. Gegen den Einkommensteuerbescheid und den Umsatzsteuerbescheid legte der Kläger Einsprüche ein, die er aber trotz mehrfacher Aufforderung nicht begründete. Gegen die die Einsprüche zurückweisenden Einspruchsentscheidungen erhob der Kläger im April 1972 Klage, die er jedoch trotz fünfmaliger Aufforderung durch das Gericht nicht substantiiert begründete. Das FG wies in der mündlichen Verhandlung vom 24. Mai 1973 in getrennten Entscheidungen bezüglich Einkommensteuer und Umsatzsteuer die Klage als unbegründet zurück. Am Tage der mündlichen Verhandlung hatte die Ehefrau des Klägers eine Stunde vor dem Termin bei Gericht angerufen und mitgeteilt, der Kläger könne bei Gericht nicht erscheinen, weil er schon seit längerer Zeit an einem Zwölffingerdarmgeschwür leide und sein Zustand sich über Nacht verschlechtert habe. Ärztliches Attest werde nachgereicht. Das am 25. Mai 1973 bei Gericht eingegangene ärztliche Attest vom 24. Mai 1973 besagt, daß beim Kläger eine akute Gastritis und Kreislauflabilität bei Ulcus duodeni bestehe und die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung zur Zeit nicht zumutbar sei.

In den hinsichtlich Einkommensteuer und Umsatzsteuer getrennten, die Klage abweisenden Entscheidungen führte das FG hierzu aus, das Gericht habe keinen Anlaß gesehen, den Termin aufzuheben. Der Kläger habe ausreichend Gelegenheit gehabt, seine Klage zu begründen. Er sei jedoch hierzu, wie die erfolglosen Aufforderungen des Gerichts zeigten, ersichtlich nicht gewillt.

Gegen die klageabweisenden Entscheidungen legte der Kläger Beschwerden ein. Er wies darauf hin, daß er das Gericht von seiner Erkrankung rechtzeitig in Kenntnis gesetzt habe. Er betrachte die angefochtenen Entscheidungen als Versäumnisurteile, deren Aufhebung er begehre. Die aufgetretene Krankheit könne nicht zu seinen Lasten gehen.

 

Entscheidungsgründe

Die zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Beschwerden können keinen Erfolg haben.

Die Beschwerden sind als Nichtzulassungsbeschwerden (§ 115 Abs. 3 FGO) anzusehen und als solche statthaft, weil der Streitwert der angefochtenen Entscheidungen 1 000 DM nicht übersteigt und das FG die Revisionen nicht zugelassen hat. Die Beschwerden sind auch zulässig, weil der Kläger offensichtlich den Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit einen Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend macht. Das ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit aus seinen Beschwerdeschriftsätzen. Die Beschwerden sind jedoch nicht begründet, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund nicht gegeben ist.

Der in Art. 103 Abs. 1 GG festgelegte Anspruch auf rechtliches Gehör findet in der FGO seinen Niederschlag in § 96 Abs. 2; danach kann ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Der Anspruch auf rechtliches Gehör geht allerdings über diese bloß negative Funktion hinaus (vgl. Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1 Rdnrn. 29 ff.) und ist ganz allgemein dahin zu verstehen, daß der an einem Prozeß beteiligten Partei Gelegenheit gegeben werden muß, sich vor Erlaß der Entscheidung äußern zu können.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kläger, der es auch sonst, wie die Akten zeigen, vielfach an einer pflichtgemäßen oder zumutbaren Mitwirkung am Besteuerungs- und Rechtsbehelfsverfahren hat fehlen lassen, genügend Gelegenheit hatte, sich vor dem Erlaß der angefochtenen Entscheidungen zu dem Rechtsstreit zu äußern. Wenn er das bis zur mündlichen Verhandlung nicht getan hat, so ist ihm durch die angefochtenen Entscheidungen nicht das rechtliche Gehör verweigert worden, auch wenn er zur mündlichen Verhandlung nicht hat erscheinen können. Der Kläger hatte das Steuerfestsetzungsverfahren, das Einspruchsverfahren und Klageverfahren schon weitgehend durch völlig passives Verhalten verschleppt. Jetzt hat er, nachdem er lange Zeit Gelegenheit hatte, sich Gehör zu verschaffen, das Risiko, die letzte Gelegenheit hierzu - wenn auch dann u. U. unverschuldet - zu versäumen, selbst zu tragen. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör im Prozeß entspricht, wie Maunz/Dürig, a. a. O., Rdnr. 6, mit Recht hervorheben, ein bestimmtes Maß an Prozeßverantwortung, die darin besteht, daß der Inhaber dieses Anspruchs auch aktiv im Prozeß mitwirkt und die ihm gebotene Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen, nicht verpaßt. Das Grundgesetz und die einzelnen Verfahrensordnungen nehmen ihm das Risiko des eigenen Verhaltens nicht ersatzlos ab, sie postulieren keinen "prozessualen Versorgungsstaat" (Maunz/Dürig, a. a. O.).

Die aufgezeigten Grundsätze lassen erkennen, daß es von den jeweils gegebenen Umständen abhängt, ob die Ablehnung eines wegen Erkrankung gestellten Antrags auf Terminverlegung den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Das zeigt auch die Rechtsprechung, die in einer solchen Ablehnung nicht in jedem Falle, sondern nur dann eine Versagung des rechtlichen Gehörs anerkannt hat, wenn die besonderen Umstände eine Beeinträchtigung der Rechte des Verfahrensbeteiligten erkennen lassen (vgl. z. B. die Entscheidungen des BVerwG vom 8. März 1972 III B 75/71, ER 210/71, HFR 1973, 197, und vom 16. März 1961 II C 107.58 Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, § 108 der Verwaltungsgerichtsordnung Nr. 3). Einen solchen Umstand hat das BVerwG z. B. dann angenommen, wenn das persönliche Erscheinen des Klägers in der mündlichen Verhandlung angeordnet worden war (Urteil vom 13. Mai 1971 II C 27/69, HFR 1972, 46); denn hier konnte der Kläger davon ausgehen, daß ohne seine (nochmalige) Anhörung keine Entscheidung ergehen werde. Auch sonst sind Fälle denkbar, in denen aus besonderem Grund die persönliche Anhörung eines Beteiligten unumgänglich erscheint und eine Versagung des rechtlichen Gehörs auch deshalb in Betracht kommt, weil einem Beteiligten nicht Gelegenheit zu mündlichen Ausführungen gegeben wurde. Ein solcher Fall liegt jedoch hier nicht vor. Im Streitfall wurde vielmehr dem Kläger ausdrücklich mitgeteilt, daß auch ohne ihn verhandelt werden könne. Wenn er die ihm viele Monate lang gebotene Gelegenheit, sich zum Prozeß zu äußern, nicht genutzt hat, so kann er jetzt nicht mit Erfolg Verletzung des rechtlichen Gehörs nur deshalb geltend machen, weil er an der mündlichen Verhandlung nicht hat teilnehmen können (vgl. BVerwG-Entscheidung vom 8. April 1963 VIII C 6.61, Buchholz, a. a. O., Nr. 24).

 

Fundstellen

Haufe-Index 70664

BStBl II 1974, 637

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