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BAG Beschluss vom 24.07.2012 - 1 AZB 47/11

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariffähigkeit. Tarifzuständigkeit. Aussetzung

 

Leitsatz (amtlich)

Einer Aussetzung iSd. § 97 Abs. 5 ArbGG bedarf es nicht, wenn über den erhobenen Anspruch ohne Klärung der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften entschieden werden kann. Dies setzt eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des Parteivorbringens in Bezug auf die Klageforderung ebenso voraus wie die Durchführung einer ggf. notwendigen Beweisaufnahme.

 

Orientierungssatz

1. Die Entscheidungserheblichkeit iSd. § 97 Abs. 5 ArbGG liegt nur vor, wenn der prozessuale Anspruch der klagenden Partei allein von der Geltung einer bestimmten Kollektivvereinbarung als Tarifvertrag iSd. § 1 Abs. 1 TVG abhängt. Eine Aussetzung hat zu unterbleiben, wenn über den erhobenen Anspruch ohne die Klärung der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften entschieden werden kann. Dies setzt eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des Parteivorbringens in Bezug auf die Klageforderung ebenso voraus wie die Durchführung einer ggf. notwendigen Beweisaufnahme.

2. Das Arbeitsgericht hat im Aussetzungsbeschluss nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG den Zeitpunkt, zu dem die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften vorliegen müssen, anzugeben. Unzureichend ist es, wenn im Tenor oder in den Gründen nur die Dauer des Arbeitsverhältnisses angegeben wird und auf die in diesem Zeitraum geltenden Tarifverträge verwiesen wird.

3. Die Aussetzung eines Verfahrens nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG darf nur erfolgen, wenn zumindest eine der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften einer Vereinigung aufgrund vernünftiger Zweifel streitig ist. Der Ausgangsrechtsstreit ist nicht schon dann auszusetzen, wenn Tariffähigkeit oder die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung nur von einer Partei ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe in Frage gestellt wird.

 

Normenkette

ArbGG § 97 Abs. 5, § 9 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Mecklenburg-Vorpommern (Beschluss vom 17.08.2011; Aktenzeichen 2 Ta 44/11)

ArbG Schwerin (Beschluss vom 16.05.2011; Aktenzeichen 3 Ca 200/11)

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 17. August 2011 – 2 Ta 44/11 – aufgehoben.

Die sofortige Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Schwerin vom 16. Mai 2011 – 3 Ca 200/11 – wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

 

Tatbestand

Rz. 1

 I. Der Kläger war bei der Beklagten vom 1. Juli 2007 bis zum 31. Mai 2008 als Leiharbeitnehmer beschäftigt. Im Arbeitsvertrag war die Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) und der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) vereinbart. Mit der vorliegenden Klage macht der Kläger Differenzlohnansprüche gemäß § 9 Nr. 2 AÜG geltend.

Rz. 2

 Die Beklagte hat beantragt, das Verfahren nach § 97 Abs. 5 ArbGG auszusetzen. Diesen Antrag hat das Arbeitsgericht abgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht den Rechtsstreit bis zur Klärung der Tariffähigkeit der CGZP “zum Zeitpunkt des Abschlusses der zwischen dem 01.07.2007 und 31.05.2008 einschlägigen Tarifverträge” ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.

 

Entscheidungsgründe

Rz. 3

 II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Ein Grund für die Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung über die Tariffähigkeit der CGZP besteht nicht. Die angefochtene Entscheidung unterliegt schon deshalb der Aufhebung, weil es an einer Begründung für die Entscheidungserheblichkeit der Tariffähigkeit der CGZP fehlt und der Zeitpunkt für das Vorliegen dieser Eigenschaft nicht hinreichend bezeichnet ist. Einer darauf gestützten Zurückverweisung bedarf es indes nicht, da die fehlende Tariffähigkeit der CGZP rechtskräftig festgestellt ist.

Rz. 4

 1. Nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG auszusetzen, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Vereinigung tariffähig ist oder ob die Tarifzuständigkeit der Vereinigung gegeben ist. Über die für die Ordnung des Arbeitslebens bedeutsame Eigenschaft der Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung soll in einem objektivierten Verfahren, in dem die jeweils beteiligten Personen und Stellen anzuhören sind (§ 97 Abs. 2 iVm. § 83 Abs. 3 ArbGG), einheitlich mit Wirkung gegenüber jedermann entschieden werden. Zu den formellen Voraussetzungen eines Aussetzungsbeschlusses, der die Grundlage für das nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG einzuleitende Beschlussverfahren bildet, gehört die Begründung der Entscheidungserheblichkeit der vorgenannten Eigenschaften und die Angabe des Zeitpunkts, für den diese geklärt werden sollen.

Rz. 5

 a) Die Entscheidungserheblichkeit iSd. § 97 Abs. 5 ArbGG liegt nur vor, wenn der prozessuale Anspruch der klagenden Partei allein von der Geltung einer bestimmten Kollektivvereinbarung als Tarifvertrag iSd. § 1 Abs. 1 TVG abhängt. Eine Aussetzung hat zu unterbleiben, wenn über den erhobenen Anspruch ohne die Klärung der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften entschieden werden kann (BAG 28. Januar 2008 – 3 AZB 30/07 – Rn. 10, AP ArbGG 1979 § 97 Nr. 17 = EzA ArbGG 1979 § 97 Nr. 9). Dies setzt eine vorherige Prüfung der Schlüssigkeit und der Erheblichkeit des Parteivorbringens in Bezug auf die Klageforderung ebenso voraus wie die Durchführung einer ggf. notwendigen Beweisaufnahme. Die Entscheidung über den erhobenen Anspruch darf nur noch vom Vorliegen der Tariffähigkeit oder der Tarifzuständigkeit der Vereinigung abhängen. Im Aussetzungsbeschluss ist daher zu begründen, dass und in welchem Umfang die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften für den erhobenen prozessualen Anspruch von Bedeutung sind. Es stünde im Widerspruch zum Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1, § 61a Abs. 1 ArbGG) wie auch zu den Grundsätzen der Verfahrensökonomie, die Parteien des Ausgangsverfahrens auf die Durchführung eines Beschlussverfahrens über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung zu verweisen, ohne dass zuvor feststeht, in welcher Weise das Ergebnis des auszusetzenden Verfahrens von der Durchführung eines solchen Beschlussverfahrens abhängt.

Rz. 6

 b) Das Arbeitsgericht hat im Aussetzungsbeschluss nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG den Zeitpunkt, zu dem die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften vorliegen müssen, anzugeben. Unzureichend ist es, wenn im Tenor oder in den Gründen nur die Dauer des Arbeitsverhältnisses angegeben wird und auf die in diesem Zeitraum geltenden Tarifverträge verwiesen wird. Vielmehr ist das Abschlussdatum des für entscheidungserheblich angesehenen Tarifvertrags konkret zu bezeichnen, da sich in den Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG die Antragsbefugnis der Parteien des Ausgangsrechtsstreits für die Klärung der dort genannten Eigenschaften nach dem im Aussetzungsbeschluss angeführten Zeitpunkt bestimmt (vgl. BAG 29. Juni 2004 – 1 ABR 14/03 – zu B I 2 a der Gründe, BAGE 111, 164).

Rz. 7

 2. Die Aussetzung eines Verfahrens nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG darf nur erfolgen, wenn zumindest eine der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften einer Vereinigung aufgrund vernünftiger Zweifel streitig ist, wobei im Arbeitsleben geäußerte Vorbehalte zu berücksichtigen und vom Arbeitsgericht aufzugreifen sind (BAG 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – Rn. 59, AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 6 = EzA TVG § 2 Nr. 31). Danach ist der Ausgangsrechtsstreit nicht schon dann auszusetzen, wenn die Tariffähigkeit oder die Tarifzuständigkeit einer Vereinigung nur von einer Partei ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe in Frage gestellt wird. Eine solche Auslegung der Aussetzungspflicht in § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG würde den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergebenden Anforderungen an die Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes nicht genügen.

Rz. 8

 a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt für zivilrechtliche Streitigkeiten aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Art. 20 Abs. 3 GG) die Verpflichtung der Fachgerichte, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit abzuschließen. Dabei ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen (vgl. BVerfG 1. Senat 3. Kammer 2. Dezember 2011 – 1 BvR 314/11 – zu III 1a der Gründe, ZIP 2012, 177). Dieses Gebot hat der Gesetzgeber für die arbeitsgerichtlichen Verfahren einfachgesetzlich durch den Beschleunigungsgrundsatz normiert. Dieser Grundsatz verpflichtet die Gerichte für Arbeitssachen, die bei ihnen anhängigen Verfahren, unter Beachtung des materiellen und des Verfahrensrechts zügig zum Abschluss zu bringen. Der Beschleunigungsgrundsatz stellt nicht nur einen unverbindlichen Programmsatz dar, sondern ist bei der Auslegung von Verfahrensvorschriften zu beachten, die Einfluss auf die Dauer des Rechtsstreits haben (BAG 5. August 1982 – 2 AZR 199/80 – zu B II 4 c der Gründe, BAGE 40, 17). Zwar wird einer raschen Verfahrensbeendigung durch § 9 Abs. 1, § 61a Abs. 1 ArbGG kein absoluter Vorrang gegenüber der Verwirklichung von materieller Gerechtigkeit eingeräumt. Deren Wert kann jedoch durch eine verzögerte oder verspätete Entscheidung beeinträchtigt werden. Bei Klagen auf Arbeitsvergütung ist zu berücksichtigen, dass die Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis für den Arbeitnehmer vielfach seine alleinige wirtschaftliche Lebensgrundlage darstellen. Eine Aussetzung des Ausgangsrechtsstreits hat zur Folge, dass die klagende Partei ihr Recht auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht innerhalb angemessener Zeit durchsetzen kann und überdies mit dem Insolvenzrisiko der beklagten Partei belastet wird. Ein Verfahrensstillstand durch eine nicht gebotene Aussetzung des Rechtsstreits stellt eine nachhaltige Verletzung des Beschleunigungsgebots dar. Darüber hinaus ist die Durchführung eines nach § 97 Abs. 5 Satz 2 ArbGG eingeleiteten Beschlussverfahrens über die in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften für alle anzuhörenden Beteiligten regelmäßig mit einem hohen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden.

Rz. 9

 b) Die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Beschleunigungsgrundsatz ergebenden Vorgaben dürfen daher bei der Auslegung der Anforderungen für die Aussetzungsentscheidung nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG nicht unberücksichtigt bleiben. Eine Aussetzung des Ausgangsrechtsstreits ist auch unter Berücksichtigung des Normzwecks des § 97 Abs. 5 ArbGG nicht geboten, wenn die Beurteilung der Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit einer Vereinigung ein Verfahren nach § 97 ArbGG nicht erfordert. Eines solchen Verfahrens bedarf es nicht, wenn über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung für den entscheidungserheblichen Zeitpunkt bereits rechtskräftig entschieden ist. Gleiches gilt, wenn am Vorliegen der in § 2a Abs. 1 Nr. 4 ArbGG genannten Eigenschaften keine vernünftigen Zweifel bestehen. Nur ein solches Verständnis trägt einerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung von effektivem Rechtsschutz Rechnung und berücksichtigt den Normzweck des § 97 ArbGG.

Rz. 10

 3. Danach liegt ein Grund für die Aussetzung des Rechtsstreits nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG zur Einleitung eines Beschlussverfahrens über die Tariffähigkeit der CGZP nicht vor.

Rz. 11

 a) Die angefochtene Entscheidung ist schon deshalb aufzuheben, weil das Landesarbeitsgericht die Entscheidungserheblichkeit der Tariffähigkeit der CGZP nicht begründet hat. Es hat in seinem Aussetzungsbeschluss weder die Schlüssigkeit der Klageforderung festgestellt noch ist es auf die von der Beklagten dagegen erhobenen Einwendungen eingegangen. Ebenso kann der angefochtenen Entscheidung nicht entnommen werden, von welchen Tarifverträgen aus Sicht des Landesarbeitsgerichts die Beurteilung der Klageforderung abhängt. Diese werden weder in den Gründen aufgeführt noch ist dort oder im Tenor ein Zeitpunkt angegeben, für den in einem nachfolgenden Beschlussverfahren die Tariffähigkeit der CGZP beurteilt werden soll.

Rz. 12

 b) Der Senat kann von einer hierauf gestützten Zurückverweisung absehen. Dabei kann offen bleiben, ob das Beschwerdegericht das Verfahren wegen der aus seiner Sicht klärungsbedürftigen Frage der Tariffähigkeit der CGZP nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG zu Recht ausgesetzt hat. Nach dem Senatsbeschluss vom 14. Dezember 2010 (– 1 ABR 19/10 – Rn. 59, AP TVG § 2 Tariffähigkeit Nr. 6 = EzA TVG § 2 Nr. 31) und der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Januar 2012 (– 24 TaBV 1285/11 ua. – DB 2012, 693) steht fest, dass die CGZP im zeitlichen Geltungsbereich ihrer Satzungen vom 11. Dezember 2002, 5. Dezember 2005 sowie vom 8. Oktober 2009 weder als Gewerkschaft nach § 2 Abs. 1 TVG noch als Spitzenorganisation nach § 2 Abs. 3 TVG tariffähig ist (BAG 23. Mai 2012 – 1 AZB 67/11 – Rn. 5, NZA 2012, 625; 23. Mai 2012 – 1 AZB 58/11 – Rn. 12, NZA 2012, 623). Eines erneuten Verfahrens nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG bedarf es danach nicht mehr.

 

Unterschriften

Schmidt, Linck, Koch

 

Fundstellen

Haufe-Index 3263153

BAGE 2013, 366

DB 2012, 1995

DB 2012, 6

EBE/BAG 2012, 138

FA 2012, 315

FA 2012, 340

NZA 2012, 1061

ZTR 2012, 563

AP 2015

AnwBl 2012, 262

EzA-SD 2012, 15

EzA 2012

MDR 2012, 1232

ArbRB 2012, 272

ArbR 2012, 426

AP-Newsletter 2012, 211

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